Die Würmer

(Erzählung von Manfred Wirth)

 

Unser Stammschloß erhob sich einstens zwischen öden, abgründigen, von reißenden Wildbächen durchtosten Felsenschluchten und ausgedehnten, eintönigen Föhrenwäldern. Mit seinen verwitterten, von immergrünen Efeu berankten und völlig überwucherten Außenmauern, die sich jedoch der langweiligen, unfreundlichen Gegend vortrefflich anpaßten, überragte das verwinkelte, burgartig angelegte Gebäude, abgeschieden auf einem Berggipfel thronend, das hügelige, ertragsarme Land. Ein alleeartiges, beiderseits von uralten, zumeist abgestorbenen Krüppelbuchen begrenztes Zufahrtssträßchen, das vom monotonen, horizontweiten Kiefernforst zu unserem eisenbeschlagenen Hauptportal heraufführte und kilometerlang mitten durch eine menschenleere, unendlich erscheinende Ödnis verlief, stellte die einzige Verbindung zur Außenwelt dar und verdeutlichte die schrankenlose Einsamkeit, Verkehrsferne und Abgeschiedenheit meiner Besitzung.

Während das Schloß bei äußeren, oberflächlichen Betrachtern einen wenig einladenden und möglicherweise sogar trostlosen Eindruck erweckte, wurde der seltene Besucher von der unerwartet glanzvollen Inneneinrichtung, die von großartigen, wenn auch extravaganten Geschmack zeugte, nahezu geblendet. Die langen, kreuz und quer laufenden Bogengänge waren größtenteils mit hochwertigen, spiegelblanken Parkettböden und rustikalen, phantastisch gemusterten Vertäfelungen aus massiven, dunkelgebeizten Eichenhölzern versehen. An den Dielen- und Nischenwänden hingen reihenweise mannigfaltige, bewundernswerte Zierrate, sowie wertvolle, meisterhafte und leider auch kitschige Bilder in reichornamentierten Goldrahmen, die den Prunk und Pomp längst verflossener Tage wieder wachriefen. Mindestens genauso prächtig und farbenfroh - zugegeben, ziemlich überladen und unmerklich verschlissen - war die Ausgestaltung und Einrichtung der vielzähligen Wohnräume. Samtweiche, handgeknüpfte, orientalische Luxusteppiche, deren satten Farben und auffällig exotische Mustervielfalt ausnehmend gut mit dem schreienden Rot der Draperien und Stofftapeten harmonierten, ließen die Schritte angenehm dämpfen und jedermann in Verzückung versetzen. Hölzerne, schwarzbestrichene Schnitzwerke in Form von bizarren Dämonenfratzen schmückten sowohl die einzigartig gewölbten Zimmerdecken als auch die pompösen, auf Hochglanz polierten Möbelraritäten und verschafften eine bedrückende, wenn nicht gar unheimliche Atmosphäre, die durch die erwähnten tiefroten Wandbespannungen, mit denen die Wohnhallen überwiegend ausgestattet waren, unweigerlich verstärkt wurde. Frühmorgens, wenn die dunstumflorte Sonnenscheibe mit ihren glutvollen, orangenfarbenen Strahlen über dem fernen, nebelhaften Felsengebirge aufstieg, oder zur stillen Abendstunde, bevor sie hinter den unüberschaubaren, dunkelgrünen Wäldern versank und ihr Schein besonders grell und feurig durch die Scheiben drang, erleuchteten die geräumigen Säle mit der flammendroten Wandverkleidung in einem aufdringlichen, blendenden und schauervollen Licht! Mancher ahnungslos im Tal vorbeiziehende Wandersmann, der die überirdisch glänzenden Schloßfenster erblickte, mußte wohl meinen, daß sich in unserem herrschaftlichen Haus ein Schlund der Hölle aufgetan habe und wir unerbittlich von seiner gleißenden Glut verzehrt werden.

Unser Geschlecht ist wahrhaftig nicht von Glück gesegnet worden! Vielmehr könnte man die Anschauung vertreten, daß Grauen und Elend in unserem Schloß beständig ihre Zepter schwangen. Schon in meiner frühesten Kindheit wurden Vater und Mutter miteinander von einer auszehrenden, hochgradig ansteckenden Lungentuberkulose unbarmherzig dahingerafft. Niemals werde ich die ausgemergelten, fratzenhaften Totengesichter meiner Eltern vergessen können! Kurze Zeit später verstarben fast gleichzeitig meine verschwenderischen, dem Trunke ergebenen Schwestern an einer langwierigen, heimtückischen und bösartigen Blutkrankheit, die den Ärzten unlösbare Rätsel aufgaben und ihre Bemühungen zunichte gemacht hatte. Mein kontaktarmer Bruder verlor sich währenddessen in absurden Todesträumereien. Ihn plagten verstiegene Vorstellungen, phantasierte er doch andauernd von Leichen, Särgen und Gruften. Mit seinem abnorm gesteigerten Interesse und seiner pathologisch übertriebenen Aufmerksamkeit war er imstande, über die schrecklichen Sterbefälle in unserer Familie abendverschwendend zu grübeln. Nichts in der Welt konnte ihn von seinem schauerlichen Hirngespinst abbringen, daß das "Schwerefeld" unseres umnachteten, früher allenthalben gefürchteten Ururgroßvaters das Diesseits noch nicht verlassen habe und in unserem Haus immerfort sein schändliches Unwesen treibe. Aufgrund dieser verschrobenen Ansichten und seiner verworrenen Gedanken verfiel Christoph in eine krankhafte Besessenheit, die von Tag zu Tag merklich schlimmer wurde und sich zuletzt in teuflischer Weise vollends seiner bemächtigte. Es gab bedauerlicherweise keinen anderen Ausweg, als den Erbarmungswürdigen in eine Nervenheilanstalt einweisen zu lassen, wo er sich allerdings in einem unbeobachteten Moment erhängte.

Seitdem hegte ich die Befürchtung, auch mir könnte Schreckliches zustoßen. Von immerwährender Seelenangst erfüllt, vegetierte ich viele Jahrzehnte in dem luxuriösen, weitläufigen Herrensitz, den außer mir nur noch mein alterndes Gesinde bewohnte. Ich vereinsamte, schloß mich jedem gegenüber ab, bis ich zuletzt so griesgrämig, wortkarg und unzulänglich wurde wie meine ergraute, mehr und mehr vergreisende Dienerschaft. Meine Nerven zermürbten und mein ganzes Denken wurde von tiefer, niederdrückender Schwermut beherrscht. Schließlich fürchtete ich, daß jede Stunde, jede Minute, ja, jede Sekunde ein grauenvolles Geschehen eintreten und entsetzliches Unheil mich heimsuchen werden. Oftmals schrak ich nachts aus meinen schweißgetränkten Kissen hoch, weil ich vermeinte, jetzt müsse das unabwendbare Verderben über mich kommen. Jahrelang war ich bemüht, mich von den ständigen Beklemmungen zu befreien. Immerzu redete ich mir ein, eine zukünftige Bedrohung sei allein in meiner Einbildung vorhanden. Doch alle Anstrengungen blieben fruchtlos. Mein untrüglicher Instinkt sagte mir, daß sich meine bangen Vorahnungen eines Tages bestätigen werden.

Ich hatte mich nicht geirrt! Auch, wäre ich nicht mehr am Leben, wäre ich in dem verheerenden Desaster, das über mich und mein Besitztum hereingebrochen war, zu Tode gekommen! Noch heute sehe ich mich außerstande, das furchtbare Unglück zu fassen und das tragische Ereignis zu begreifen!

Ich erinnere mich minuziös an die geringsten Einzelheiten. In einer diesigen, naßkalten Allerseelennacht, als die volle Mondscheibe matt durch gespensterhaft wallende Nebelschleier schien, saß ich in meinem winkeligen Schlafgemach und las im spärlichen, gedämpften Lichtschein meiner ockerfarbigen Nachttischlampe mit glühender Begeisterung eine spannende Erzählung des großen, bekannten, amerikanischen Schriftstellers Edgar Allan Poe. Seine tiefgründigen, eindrucksvoll, makabren Stories - ausgezeichnete, unübertroffene und unvergängliche Meisterwerke - hatten mich von jeher gefesselt und übten auf mich einen unbeschreiblich sinnverwirrenden Zauber aus.

Ich beabsichtigte soeben, mich einer neuen Dichtung dieses eigenwilligen und genialen Schilderers des Grauens zuzuwenden, als eine merkwürdige, scheinbar grundlose Nervosität von mir Besitz ergriff, die, verbunden mit einer unerklärlichen, noch nie verspürten Bangigkeit, meinen siechen Körper erschaudern ließ. Ich schob benommen mein zerlesenes Buch zur Seite, erhob mich zögernd von der knarrenden Bettstatt, schlürfte aufgeregt durch den mäßig erhellten Raum, zog hastig die faltenreichen, fransenbesetzten Vorhänge zurück und stieß ungestüm die breiten Fensterflügel auf. Ohne eine einleuchtende Erklärung zu finden, weshalb ich das tat - außer daß instinktive Gefühle mich so zu handeln befehligten - schaute ich gespannt, ja, geradezu erwartungsvoll nach draußen und beobachtete verwundert das Geäst und Gezweig der knorrigen, krüppelhaften Bäume, das der sturmartige Nordostwind mit unbändiger Wildheit auf- und abschwingen ließ. Die schlangenförmig gewundenen Äste einer einzelnstehenden, dickstämmigen Weide, die greifbar nah an mein niedriges Fenster reichten, wurden von den schneidenden Windböen mit roher Gewalt hin - und hergepeitscht, wobei sie sich beängstigend bogen und ohne Unterlaß an den morschen, wurmstichigen Fensterläden vorbeistreiften. Geheimnisvoll lugte der bleiche Vollmond zwischen den weißlichen, rastlos dahinjagenden Dunstschwaden hervor und ließ die schroffen, zackigen Felsengebilde meiner einsamen Umgebung im schaurigen, wechselvollen Licht schimmern.

Urplötzlich kam es mir vor, als ob ein mattfunkelndes, undefinierbares Etwas langsam aus den tiefherabhängenden Wolkenfetzen schweben würde, das die Form einer gigantischen Kugel zeigte. Da das mysteriöse Flugobjekt mit absoluter Lautlosigkeit niederglitt, hielt ich meine Wahrnehmung anfangs für eine Halluzination. Angesichts meiner Schlafbedürftigkeit hätte es ohne weiteres möglich sein können, daß ich für den Augenblick einer Sekunde in Halbschlummer gefallen und einer Traumvision erlegen war. Angestrengt, mit meinen ermüdeten Augen die Schwärze der gespenstisch verhangenen Novembernacht durchbohrend, fixierte ich, weit aus dem Fenster gebeugt, den Punkt nahe bei der bergabführenden Buchenchaussee, wo ich glaubte, daß die rätselhafte, kugelförmige Erscheinung niedergegangen war.

Nachdem ich noch minutenlang entgeistert auf jene Stelle gestiert hatte, jedoch nichts mehr wahrnahm, was mich beunruhigt und geängstigt hätte, beschloß ich, die Angelegenheit auf mich beruhen zu lassen. Da mich zunehmend die Schläfrigkeit übermannte und meine Phantasie ohnedies genug aufgepeitscht war, unterließ ich es, weitere Schauergeschichten zu verschlingen. Ich verriegelte sorgsam die regenfeuchten Holzläden und legte mich gramerfüllt zur Ruhe. Gedankenvoll lauschte ich der abwechslungsreichen, gruseligen Melodie des herbstlichen Sturmwindes. Sein gottserbärmliches Wehklagen ging manchmal in ein schmerzerfülltes Jaulen über und schwoll oft zu einem sirenenartigen Heulen an. Die Böen pfiffen ums Haus, brausten im Schornstein und rüttelten unermüdlich am halbabgerissenen Feuertürchen des antiquierten Kachelofens. Unterdessen schlugen die sturmbewegten Weidenbaumäste dermaßen an die altersschwachen Fensterläden, daß diese zu zerschmettern drohten und es sich anhörte, als ob jemand klatschende und zischende Peitschenhiebe austeilen würde. Trotz meiner Müdigkeit ließen mich die schauderhaften Geräusche geraume Zeit keinen Schlaf finden.

Irgendwann mußte ich dennoch ins Reich der Träume hinübergesunken sein, denn ein grauenhaftes Alpdrücken marterte und peinigte mich. Ungezählte, teils verschwommene, wüste und turbulente Szenen mit monströsen, vierschrötigen Gestalten, die ihre widerlichen Visagen mir gefahrdrohend zuwandten, folgten dicht aufeinander. Doch unvermittelt rückten die furchteinflößenden Teufelsgrimassen in den Hintergrund und mir kam eine junge, zierliche Frau entgegen, die ich aufmerksam betrachtete. Ihre rotumränderten Augen hatte sie hilfesuchend auf mich gerichtet; ihr Gesicht war abgezehrt und blaß, totenblaß. Da die Fremde nur mühsam aufrecht gehen konnte und sich offenbar vor rasenden Schmerzen krümmte, während sie keuchend auf mich zuhumpelte, reichte ich ihr blitzschnell meine Hand, um sie vor einem unglücklichen Sturze zu bewahren. Mit eisigem Erstarren fühlte ich jedoch, daß ich spindeldürre, verkrüppelte und leblose Knochenfinger umklammerte. Abermals blickte ich in das Antlitz der Unbekannten. Doch da gab es keine weiblichen Gesichtszüge mehr zu erkennen. Ich sah in einer überraschend unglaublichen Deutlichkeit nichts anderes als einen aschgrauen, schmutzigen Totenschädel, dessen nackten Augen mich unverhohlen angafften.

Mit einem gellenden, langgezogenen Schrei, wie nur Todesfurcht und höchste Seelennot ihn zu erpressen vermögen, hatte ich den beklemmenden Traumzustand abgeschüttelt und erwachte, von Schweiß durchnäßt.

Kopfüber und beinahe besinnungslos stürzte ich aus dem zerwühlten Bett. Der schwere Alpdruck hatte in mir ein lästiges Unbehagen hervorgerufen, welches mich mit derartiger Unbarmherzigkeit quälte, daß mir schwindelig und sonderlich flau wurde. Ich trug mich mit der Absicht, einige Beruhigungspillen einzunehmen, um meine innere Unruhe und Aufgewühltheit zu mindern. Da sich jedoch meine Hausapotheke zwar im angrenzenden Raume befand, jedoch keine Verbindungstüre von meinem Schlafzimmer direkt in diese Stube führte, war ich gezwungen, auf den ungemütlichen, dürftig erhellten Flur hinauszutreten. Beim Überschreiten der Schwelle spürte ich mit Befremden, daß mir aus dem Vorraum ein unbegreiflicher, scharf-süßlicher Geruch entgegendrang. Die mefitischen Dünste stiegen mir intensiv in die Nase, worauf ich ekelerfüllt die Luft anhielt. Hierbei streifte mein Blick zufällig das ovale, kolossale Porträt meines vollbärtigen Ururgroßvaters, das in der gangähnlichen, unverhältnismäßig schmalen Diele im schmutziggoldenen, exzentrisch verschnörkelten Rahmen seit fast einem Jahrhundert prangte, um nicht zu sagen: verunzierte. Ich gewahrte jähen Entsetzens, - oder ich bildete mir dies zumindest in meiner maßlosen Verwirrung ein - daß die schattigen Augenvertiefungen auf dem mattschimmernden Ölgemälde leeren, toten Höhlen glichen; o Gott, es wahren kahle, kantige Löcher, weite, fürchterlich gähnende Öffnungen, die sich zu bewegen schienen.

Von eiskaltem Schauder erfaßt, taumelte ich meterweit zurück und prallte mit meinem Körper gegen eine mannshohe, altertümliche Vitrine, deren verstaubtes Glas klirrend in tausend Stücke zersprang. Sämtliche Bücher, Zeitschriften, Urkunden, sowie Großmutters exquisite Porzellanteller, die in dem dunkelholzigen Schrankungetüm aufbewahrt waren, knallten mit voller Wucht auf den Fußboden.

Während ich, wie vom Blitz getroffen, unverwandt auf die Verwüstung starrte, bemerkte ich plötzlich einen vergilbten, zerknitterten Bogen, der etwas abseits von den übrigen Schriftenmaterial lag und auf mich eine unerklärbare, magische Anziehungskraft ausübte. Ich bückte mich, nahm das eingerissene Blatt nach längerem Zaudern in meine zitternde Hand und buchstabierte mühselig die zum Teil verblichenen, handschriftlichen, in Gedichtform geschriebenen Sätze:

 

Wimmern die Knechte in höchster Not,
schallt durch die Unglücksnacht ihr Klagen,
nahet herbei der grimmige Tod,
hart und schwer sind Leiden und Plagen.

Vor Weh und Seelenpein sterbenskrank,
verzweifeln sie auf schwankendem Grund.
Ein abscheulich beißender Gestank,
hüllt sie ein in ihrer Todesstund’.

In einem furchtbar wütenden Sturm
derben Mensch und Tier im Jammertal,
bedeckt vom zähen, schleimigen Wurm,
verfault jedes Wesen voller Qual.

 

Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, welcher Sinn in diesen Zeilen lag, die, wie ich annahm, mein geistesgestörter Ururgroßvater in seinem hirnverbrannten Tun zu Papier gebracht hatte. Mir fiel lediglich ein, daß meine Großmutter in der letzten Stunde ihres kummervollen Daseins von einer düsteren Prophezeiung des berüchtigten Ahnen gesprochen hatte. Demnach sollte der Irrsinnige einmal geäußert haben, daß die festen Mauern unseres feudalen Stammsitzes in einer verhängnisvollen Sturmnacht bersten und im höllischen Strudel einer schwarzen, schlammigen Masse versinken werden. Doch wer mochte diesen alten Weissagungen Glauben schenken?

Betroffen, regungslos, in ungereimten, abwegigen Gedanken vertieft, verharrte ich. Indessen wurde der pestilenzialische Gestank immer beißender, immer ekelerregender und riß mich brutal aus meinen wirren Träumen. Ich öffnete schleunigst ein Korridorfenster, weil ich wähnte, daß eine frische, erquickende und reinigende Nachtluft hereinströmen werde. Jedoch blieb mir nichts anderes übrig, als die halbvermoderten Läden eiligst wieder zuzuschlagen. Mit grenzenloser Verwunderung merkte ich, daß die penetranten Gerüche ohne Zweifel außerhalb des Gebäudes ihre Entstehung haben mußten. Sekundenlang schlug mir von draußen eine stechende, stickige und verpestete Luft entgegen; es verschlug mir derart den Atem, daß ich nur noch röchelte und beinahe hinstürzte.

Als ich im Begriffe war, die Schiebetüre zu jenem Zimmer aufzuschließen, in dem mein reichhaltiger Arzneischrank stand, hörte ich hinter meinem Rücken ein Dielenbrett verdächtig knacken. Ruckartig und zu Tode erschrocken fuhr ich herum und erblickte im Halbdunkel des muffigen Korridors einen geisterhaft hageren Schemen, der bedächtig auf mich zuschlich und sich im Näherkommen als meine Magd Anna-Dorothee entpuppte, eine greise, gehbehinderte und altersbedingt wunderliche Frau, welche ersatzweise als Köchin fungierte und tagsüber am Herd gewissenhaft ihren Dienst verrichtete. Ich wollte die Nachtwandlerin gerade ansprechen und erstaunt fragen, was sie wohl zu so später Stunde vor meinem Schlafzimmer zu suchen habe, als ich erschütternd sah, daß die Bemitleidenswürdige eine ziemlich verstörten und verängstigten Gesichtsausdruck zeigte, sich kaum auf ihren krummen, knochigen Beinen halten konnte und anscheinend nicht mehr Herr über ihre Sinne war. Besorgt eilte ich hin, um sie zu stützen. Indes, die dürre Alte entglitt meinen helfenden Händen, torkelte und sank schluchzend zu Boden. Mein sofortiger Versuch, die Gestürzte aufzurichten, scheiterte schmählich, weil ich sie wegen ihres unheilbaren, körperlichen Gebrechens nicht allzuhart anfassen mochte. Ratlos beugte ich mich über die unbewegliche Greisin und musterte nichts ahnend ihr sardonisch verzerrtes Runzelgesicht, als sie unvermutet mit einer außergewöhnlich hohlen, mißtönenden und gebrochenen Stimme aus ihrem häßlichen, zahnlosen Mund den unfaßlichen Ausruf herausschleuderte: "Die Würmer! Die Würmer!" Mir leuchtete nicht ein, was sie mit diesen unerhört dröhnenden Lauten, die mein Ohr beleidigten und mich jählings zusammenzucken ließen, gemeint haben konnte. Ich vermochte mich des Eindrucks nicht zu erwehren, daß das zurückgezogene, trübselige Leben auf meinem gottverlassenen Schloß den ohnehin bedauernswerten und verwirrten Geist der Frau nunmehr vollends zerrüttet habe.

Während die hochbetagte Küchenmagd in ihrer unveränderlich jammervollen Stellung auf dem kalten Dielenparkett lag, stürmte ich zum Medikamentenschrank, schluckte erschöpft meine unentbehrlichen Tabletten und schüttete leichtfertigerweise drei bis vier Gläser puren irischen Whisky durch meine ausgedörrte Kehle.

Auf einmal durchdrang ein zuckender, starkblendender Feuerschein die trüben Fensterscheiben. Gleichzeitig erlöschte die elektrische Deckenbeleuchtung. Vermutlich war unweit des Schlosses ein Hochspannungskabel der Freileitung, die mein abgelegenes Haus mit der notwendigen Elektrizität versorgte, durch einen kräftigen Windstoß zerrissen worden. Der jäh aufflammende Lichtblitz schien die sonst so ruhigen Pferde in den Stallungen aufgeschreckt und scheu gemacht zu haben, scharrten und stampften sie doch unausgesetzt mit ihren Hufen. Meine Erregung wurde wegen dieses ärgerlichen Stromausfalles, von dem der gesamte Gebäudekomplex betroffen war, nur noch gesteigert. Eine unverständlich panische Angst stieg in mir auf. Wie vom Satan geritten, raste ich in mein Schlafgemach zurück. Als ich mich in dem stockfinsteren Raum notdürftig ankleidete, stellte ich schaudernd fest, daß der giftige, lungenzerreißende und nicht mehr auszuhaltende Höllengestank sich inzwischen auch hier hartnäckig eingenistet hatte.

Ich hastete, jagte, stolperte und flog die unbeleuchtete Stiege hinunter, um meine getreuen Bediensteten aus ihren Schlummer zu reißen und sie von dem sonderbaren Vorkommnis zu unterrichten.

Auf der ächzenden Holztreppe rutschte ich mehrmals aus und fiel einmal sogar der Länge nach hin. Als ich im erbärmlichen Geflacker eines Zündholzflämmchens nach der Ursache dieses harten, schmerzvollen Sturzes forschte und den Grund dafür suchte, weshalb im Stiegenhaus manche Stellen so unangenehm glitschig waren, erkannte ich eine beträchtliche Anzahl kleiner, fetter, klebrig-glitzernder Würmer, die, gelbe, schmierige Spuren hinter sich lassend, auf den ausgetretenen Stufen dahinkrochen. Angeekelt zertrat ich diese fremdartigen, übelriechenden Geschöpfe, indes - eine breiige, gallertähnliche Masse blieb zähhaftend zurück.

Jetzt war ich felsenfest davon überzeugt, mich in einem grausigen Alptraum zu befinden. Ich tat ein paar mutige, energische Schritte und schrie ununterbrochen in die undurchdringliche Finsternis hinein. Allein, es wollte mir nicht gelingen, den horriblen Zustand abzuwälzen. So dämmerte in mir schleichend langsam die bittere, niederschmetternde Erkenntnis auf, daß alles, was um mich vorging, nichts anderes als die Wirklichkeit, die rauhe, schreckensvolle Wirklichkeit sein konnte.

Als ich die nebeneinanderliegenden Gesindestuben im Erdgeschoß erreicht hatte, sah ich zu meinem größten Erstaunen, daß alle schon aufgestanden waren und sich ausnahmslos versammelt hatten. Offensichtlich war eine wilde Panik ausgebrochen. Die Leute jammerten, kreischten oder brüllten wie vom Teufel besessen heillos durcheinander, guckten wie von geistiger Umnachtung befallen unstet um sich und waren nicht mehr fähig, auf meine bestürzten Fragen ordentliche Auskünfte zu erteilen. Mühevoll versuchte ich, die aufgebrachte und lamentierende Gesellschaft zu beschwichtigen und die chaotische Lage zu beseitigen. Schließlich deuteten allesamt, am ganzen Leibe bebend, durch die buntverglasten Scheiben nach draußen.

Den ängstlichen Blicken meines Personals zaghaft folgend und aus einem sperrangelweit geöffneten Fenster in die schwarzgraue Dunkelheit der stürmischen Schauernacht gründlichst spähend, entdeckte ich im müden Schimmer des fahlen Erdtrabanten eine unerkenntliche, sirupartig anmutende, weithin ausgestreckte Substanz, die mit grotesken Bewegungen träge hin und her schwappte. Als mir ein verhutzelter, kahlköpfiger Domestik eine brennende Kienfackel in die Hand drückte und ich erregt auf dieses eigenartige Fluten hinausleuchtete, wurde ich mit namenlosem Schrecken gewahr, daß die wogende Masse aus tausend und abertausend Würmern bestand, von denen ich kurz zuvor etliche im Treppenaufgang zerquetscht hatte. Der eingefriedete Hofgarten in eine Fläche von annähernd fünfzig mal dreißig Metern war von den braunen, abstoßend stickenden Kriechtieren übersät.

Ich befürchtete, das emsige aufgetürmte, fortwährend sich ausbreitende Heer greulicher Würmer könnte durch die zahlreich offenstehenden Parterrefenster eindringen. Darum bat ich meine Hausangestellten inständigst, auf der Stelle die Läden zu schließen. Da die Leute jedoch unentschlossen zögerten und diese einfache, alltägliche Arbeit dermaßen ungeschickt und unbeholfen ausführten, sah ich mich genötigt, sie rücksichtslos zur Eile anzutreiben. Impulsiv aufbrausend, überschüttete ich meine ungelenke, verschüchterte Dienerschaft mit einem Schwall von derben Schimpfworten und lästerlichen, lautstark durchs Haus hallenden Flüchen. Doch alsbald kam mir zum Bewußtsein, daß die undichten, wetterzernagten Klappläden den unglückseligen Verlauf der vernichtenden Katastrophe unmöglich zu hemmen vermochten. Kaum hatten wir gemeinsam das letzte Fenster geschlossen, wurde das Bersten und Spreißeln des mulmigen Holzes vernehmbar. Ehe wir uns versahen, splitterten die Scheiben und gleich einer Flutwelle ergoß sich die lebendige, fettglänzende Würmermasse von allen Seiten unaufhaltsam in unsere Gemächer.

Angewidert von diesem gräßlichen Schauspiel, gab ich den verzagten, zutiefst seufzenden und stöhnenden Dienstboten die strikte Anweisung, unverzüglichst die gefährdeten Untergeschoßwohnungen zu räumen und sich in Sicherheit zu bringen. Da mein geplanter Fluchtweg durch die nahegelegene Hoftüre bereits von den üblen Kreaturen samt ihren ekelhaften Exkrementen überdeckt und somit völlig unbegehbar war, schlug ich vor, daß wir uns sofort in den jahrhundertealten Wehrturm hinaufbegeben.

Während hinter uns die eingedrungenen Würmerscharen ungehindert auf den kostbaren Orientteppichen dahinglitten und diese mit leimigen, sülzigen oder eiterähnlichen Belägen befleckten, von denen widerwärtige Aasgerüche ausströmten, flohen wir naserümpfend die eisernen Treppenstufen empor. Ein erleichterte Aufatmen ging durch unsere Reihen, als wir in die hochgelegenen, schon lange nicht mehr betretenen Gelassen des Bergfriedes angelangt und einstweilen dem Schlimmsten entronnen waren. Ich hatte zwar damit gerechnet, einen wohnlicheren und gemütlicheren Zufluchtsort vorzufinden und keine derart staubigen, verfallenen und spinnwebenbehangenen Turmkammern; aber dies durfte uns in Anbetracht solcher Nöte und Bedrängnisse keinesfalls bekümmern.

Wir verteilten uns auf beide Oberetagen, lehnten uns aus sämtlichen Erkerfenstern oder steckten die Köpfe durch die winzigen, rautenförmigen Dachluken, um das infernalische Treiben der Höllenbrut genauestens verfolgen zu können. Mehrere Bedienstete schickten sich sogar an, auf die baufällige, bröckelige Turmbekrönung hinauszuklettern, weil sie dort bessere Ausblicke zu erhaschen gedachten. Ich vermochte dies rechtzeitig zu verhindern und mußte den Unvorsichtigen klarmachen, daß ihr sträflicher, bodenloser Leichtsinn ihnen leicht zum Verhängnis hätte werden können.

Unablässig äugten wir auf die dunklen, mörderischen Wogen des lebhaften, aufgewühlten, schier uferlosen Würmermeeres. Wachsende Todesfurcht folterte und würgte uns bis zum galligen Erbrechen, als wir am Ende des einstmals liebevoll gepflegten Ziergartens, in unmittelbarer Nähe der unbelaubten Buchenallee, ein rundes, buntschillerndes, pulsierendes Monstrum erspähten, das von einer absonderlichen Schleim- oder Fettschicht überzogen war und aus dem pausenlos neue, immer längere und dickere Würmer schlüpften oder hervorsprudelten, um pfeilschnell nach allen Seiten davonzuschießen. Zweifelsfrei handelte es sich um jene obskure, schreckenerregende Riesenkugel, die ich vor wenigen Stunden vom dunstverschleierten Nachthimmel herabschweben gesehen und zunächst für eine harmlose Sinnestäuschung gehalten hatte.

Die meilenweit reichende Aussicht gestattete uns, einen ersten Überblick über das katastrophale Ausmaß der Zerstörungen zu gewinnen. Das bewaldete Gelände ringsumher wurde schonungslos von den teuflischen Dingern vernichtet. Ausgenommen in nördlicher Richtung war ein unwirtliches, brachliegendes Gebiet noch nicht von ihnen eingenommen worden. Unzählige Nadelbäume verschwanden geräuschlos im schaudervollen Gewimmel. Die himmelanragenden Gittermasten der Starkstromleitung, die in regelmäßigen Abständen den kurvenreichen, von entblätterten Buchen bestandenen Zufahrtsweg folgten und sich in nachtgrauer Ferne am Horizont verloren, waren teilweise wie Streichhölzer umgeknickt und widerstandslos niedergewalzt worden. Der ungeheure Haufen unentwegt übereinander hinwegkriechender, hurtig durcheinanderschießender, mitunter zu riesigen Schleimklumpen geballter Würmer strotzte von einer derartigen Kraft, Lebendigkeit und Vitalität, wie ich sie schwerlich in Worten zu vermitteln vermag. Unschlüssig glotzten wir auf das barbarische Zerstörungswerk der gefährlichen Bestien. Sind diese verderbenbringenden Geschöpfe intelligente Bewohner eines fremden Planetens, die ihr Raumschiff ausgerechnet vor meinem Schloßhof landen mußten, um von hier aus die Erde mit ihrer erstickenden Masse zu bedrohen? Ist der Menschheit Herrschaft nun für allemal ein böses Ende gesetzt worden?

Wir fanden jedoch kaum Gelegenheit, uns solchen abstrusen Erwägungen hinzugeben. Tatenlos mußten wir zusehen, wie die Satanswesen in schreckeinflößenden Unmengen aus ihrer luziferischen Brutstätte quollen, fortgesetzt aufwirbelten, übermütig hochhüpften und - sich mit gieriger Beharrlichkeit an den efeuumsponnenen Granitmauern emporwindend und zielstrebig vorwärts arbeitend - uns unfehlbar in kürzester Zeit erreichen würden. Ein dumpfes, unbehagliches Stillschweigen herrschte. Die unerträglich angstvolle Spannung zerrte an unseren Nerven ...

Da vernahmen wir mit stockendem Herzschlag einen ungewöhnlich durchdringenden, markerschütternden und mitleiderregenden Klageschrei. Nach meinen Mutmaßungen schallte er aus jenem Gebäudeteil, in dem sich meine Wohn- und Schlafräume befanden. Erst jetzt entsann ich mich wieder der bejahrten Küchenmamsell, die dort im dritten Stockwerk noch hilflos darniederliegen und in unsäglicher Lebensgefahr schweben mußte.

Mit einem funzeligen, flackernden Windlicht verließ ich kurz entschlossen das modrige Dachgeschoß, tappte angsterfüllt die beschwerliche Spindeltreppe hinab und gelangte, nachdem ich verschiedene Räume und Verbindungsgänge eilends durchschritten hatte, in den betreffenden Korridor. Auch in dieser Etage hatten bereits vereinzelte Würmergruppen die Tapeten und Wandverkleidungen mit ihren abscheulich qualligen Absonderungen benetzt und besudelt. Der Parkettboden war zentimetertief aufgehetzt und stellenweise regelrecht durchlöchert. Unaufhörlich rieselte der Putz vom Deckengewölbe. Selbst die antiken Einrichtungsgegenstände blieben von der gnadenlosen Wühlarbeit der zerstörerischen, unbezwingbaren Kreaturen nicht verschont.

Die wehrlose, gebrechliche Magd, die noch unverändert im Flure hingestreckt dalag, war eben dabei, ihr freudloses und sorgenreiches Schattendasein zu beenden. Zu Dutzenden saßen diese mordgierigen Tiere an ihren eingefallenen Wangen, hatten sich wie schmarotzende Blutegel festgesaugt und auf dem zerfurchten, schmerzverzerrten Angesicht blutige, klaffende Wunden hinterlassen. Zwischen den zerzausten, schmutzstarrenden Haarsträhnen und in ungefährer Höhe der Ohrläppchen tummelten sich die Schleimkriecher in solcher Dichte, daß es aussah, als ob sie aus dem hutzeligen Hinterkopf ausgeschlüpft wären. Das Nachtgewand der Todgeweihten war von oben bis unten zerfressen, unansehnlich speckig und blutdurchtränkt. Aus ihrem halbentblößten, garstig entstellten Unterleib hingen die aufgedunsenen Eingeweide. Die gesamte Haut der Sterbenden war auf unvorstellbare Weise entzündet, aufgesprungen und mit eitrigen, aufplatzenden Geschwüren bedeckt. Mit einem allerletzten, herzzerreißenden Seufzer, der sich laut ihrer gequälten Brust entrang, verschied die Greisin unter meinen Händen.

In diesem Moment fiel das geschmacklose, überlebensgroße Bildnis meines unheilverkündenden Ururgroßvaters krachend von der schmutzverschmierten Wand herab. In plumpen, fetten Trauben klebte das unersättliche Gewürm an dem lädierten Gemälde. Entsetzt wich ich zurück. Als ich daraufhin mit der unhandlichen, schmiedeeisernen Laterne ins nahe Schlafzimmer leuchtete, erkannte ich zahllose unförmige Würmerklumpen in meiner Liegestatt. Das ganze Bett ähnelte einer Anhäufung verschimmelter und vermoderter Fäkalien, fürwahr so eklig, so schmierig, so mistig! Pfui Teufel! Die Verunreinigung suchte ihresgleichen. Ein Schweinestall hätte nicht dreckiger und versauter sein können! Mich packte unsagbarer, ununterdrückbarer Ekel. Ich mußte gegen Übelkeit ankämpfen und konnte nicht umhin, mich zu übergeben.

Gleich hernach kündigte sich ein weiteres Schrecknis an, das den vorausgegangenen Vorfällen an Scheußlichkeit keineswegs nachstand. Als ich einen ahnungsvollen Blick durch die zersplitterten Fensterscheiben warf, gewahrte ich mit unermeßlichem Grauen, daß der steingraue, festgemauerte Turmbau, den ich vorhin spontan verlassen hatte und in dessen obersten Etagen meine bemitleidenswerte Dienerschaft verzweifelte, bedrohlich hin und her wankte, als ob er von heftigen Erdstößen erschüttert würde. Augenscheinlich hatten die verdammten Scheusale sich nun endgültig Zutritt zu diesen Räumlichkeiten verschafft. Überall hinter den zerborstenen Fensterkreuzen wallte und wogte die ekle, dunkelbraune, unbezähmbare Würmermasse. Viele meiner Knechte und Mägde hingen wimmernd in den Fensterbrüstungen oder in den Zinnen und tropften buchstäblich vor Eiter, Schleim und Schmiere.

Krampfhaft wehrte sich mein Geist dagegen, die unüberbietbaren Greuel und die zügellose, unverhüllte Grauenhaftigkeit dieser alptraumhaften Szenerie zu erfassen. Doch allmählich zwang sich mir die grausame Wahrheit auf, schnitt sich qualvoll in meine Seele und meißelte sich schmerzhaft in meinen Verstand. Ich brach in ein langanhaltendes Entsetzensgeschrei aus, welches das Echo in der Weite der geräumigen Hallen und endlos verzweigten Korridore höhnisch grölend nachäffte.

Bald darauf erdröhnte ein ohrenbetäubendes, nicht enden wollendes Donnergepolter! Die schäumende Schleimflut hatte aller Wahrscheinlichkeit nach das stabile Fundament des Nebenflügels unrettbar unterspült. Infolge der nimmermüden, wühlenden, bohrenden und ätzenden Würmertätigkeiten wurden die wuchtigen Grundmauern ihrer Standfestigkeit beraubt. Das umfangreiche Wirtschaftsgebäude einschließlich des landüberragenden Hauptturmes zerbröckelte an allen Ecken und Enden. Die Trümmer krachten, donnerten, polterten, prasselten und klatschten mit dem beklagenswerten, zu Tode gemarterten Gesinde unausweichlich ins erbarmungslose Schleimmeer, dessen tödliche, schaudererregende Wellen sogleich alles mit sich rissen, die zermalmten Menschenleiber begierig verschlangen und lautlos über die eingestürzten Mauerbrocken zusammenschlugen.

Das gewaltige, explosionsartige Getöse brachte mich wieder einigermaßen zur Besinnung. Mein Herz klopfte rasend. In meinen Schläfen pochte es wie toll. Allerorten wimmelte es von Würmern. Der aalglatte, schlüpfrige Dielenboden unter meinen Füßen schwankte bedenklich. Mich durchzuckte die schmerzliche Gewißheit, daß der Einsturz des Hauptgebäudes unvermeidlich war und unabänderlich bevorstand. Mir blieb keine andere Wahl, als mein Heil in der Flucht zu suchen und mich kurzerhand aus einem gegenüberliegenden Klappfenster hinauszuschwingen. Am dichten Rankenwerk der engverschlungenen Kletterpflanzen, die glücklicherweise bis zu dieser schwindelnden Höhe trieben, glitt ich an der einzig freien, von den Monsterwürmern noch nicht in Mitleidenschaft gezogenen Seite auf sicherem, rettendem Erdboden hinab. So schnell wie mich meine Füße trugen, rannte ich nordwärts, der nachtverhüllten Wildnis entgegen.

Als hinter mir ein spukhaft jämmerliches Gewieher die wieder eingetretene Totenstille der unheilvollen Nacht durchschnitt, wurde mir bewußt, daß auch die stattlichen Pferdeställe von den siegreichen, eroberungssüchtigen Würmerkolonnen überwältigt worden waren und meine edlen, vollblütigen Rösser wohl keine Rettung mehr erhoffen durften.

Vollkommen atemlos hielt ich in fast ohnmächtiger Erschöpfung inne, um auf das einstige Herrschaftsgebäude zurückzublicken. Das Haus meiner Väter war jedoch total zertrümmert, mein Hab und Gut unwiederbringlich dahin! Anstelle der mir wohlvertrauten, ehemals stolzen Baulichkeit sah ich trotz vorherrschender Düsternis erschreckend deutlich die starkvibrierende, zuweilen turmhoch zuckende Würmermasse, die sich rundumher bis in die umliegenden Felsenklausen und Talniederungen erstreckte und weite Landstriche unaufhaltbar überschwemmte. Wer ist in der Lage, diesen scheußlichen Anblick länger zu beschreiben, den das harte Schicksal mir so mitleidlos beschieden hatte und auf den keine Menschenseele gefaßt sein konnte?

Ich hatte nicht bemerkt, daß am südöstlichen Nachthimmel drohende Wolken aufgezogen waren. Unversehens fing es dermaßen stark zu regnen an, daß ich geschwind unter einer Kiefernbaumgruppe Zuflucht suchen mußte, deren kümmerliches Nadeldach mir freilich nur unzureichenden Schutz zu bieten vermochte.

Die niederprasselnde Wassermenge des wolkenbruchartigen und graupelvermischten Regens bewirkte eine unvorausschaubare, schlagartige Wandlung des Geschehens. Abrupt veränderte sich das erschütternde Bild des abscheuerregenden Würmerberges. Im Verlaufe eines Atemzuges zersetzte sich die unübersehbare Schar der schleimigen Scheusale. Der zappelnde Hügel schrumpfte, verrottete, verweste, verschlammte und verwandelte sich mit komisch glucksenden und brodelnden Geräuschen in einen sämigen, klebrigen Brei von anwidernder, überkeiterweckender Fäulnis, die vom zerstörten Bergrücken schwerfällig die Steilhänge hinterunterfloß und in die finsteren Abgründe triefte. Die kotige, viskose Flüssigkeit wurde zusehends weniger, dünner, wässeriger, plätscherte wie ein munteres Rinnsal zwischen Geröll und Steintrümmern dahin, versickerte im Sand oder träufelte in die felsigen Klammen, um gänzlich zu verschwinden.

Der Regenguß hatte mittlerweile nachgelassen. Die Wolkenwand zerteilte sich unverhofft und ließ das Nachtgestirn wieder sichtbar werden. Ich stand verbittert und verzagt, durchgefroren und bis auf die Haut durchnäßt, am Rande des lichten Kieferngehölzes und besah mir die kläglichen, wahrlich bejammernswerten und kaum mehr wahrnehmbaren Überreste meines Besitzes. Von unaussprechlichem Grausen gepackt und niedergeschüttelt, entdeckte ich, daß die steile Anhöhe, auf der einst mein Schloß gravitätisch gen Himmel geragt hatte, radikal abgefressen war und durch die morastigen, zähflüssigen Ergüsse wie abgewaschen und leergefegt wurde. Zurückgeblieben war ein graues, unbesteigbares, überhängendes Felsenmonstrum, das zwei gezackte, durchbohrte Löcher aufwies. Das mächtige, oben abgerundete Steinmassiv war in Talnähe dergestalt angenagt und unterhöhlt worden, daß es sich nach unten sichtlich verschmälerte und die unverkennbare Form eines überdimensionalen, furchterregenden Totenschädels angenommen hatte, durch dessen riesenhaften Augenlöcher der blutrote Glanz des untergehenden, spöttisch grinsenden Vollmondes strahlte.

Eine bleierne, unüberwindliche Mattigkeit überfiel mich, als ich in meiner ausweglosen Verzweiflung auf dem erkalteten, steinigen Erdboden niederkauerte, unfähig einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Ich war umgeben von einer armseligen, ausgelaugten, zerklüfteten, erstarrten und für allezeit verwüsteten Landschaft. Unmittelbar vor meinen Augen aber, inmitten der hoffnungslos verdorbenen Natur, ragte trotzig, triumphierend und monumental der Totenkopf.

© Manfred Wirth

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