Die Standuhr

(Erzählung von Manfred Wirth)

 

Das Schloß, das ich seit meiner Kindheit bewohne und meine Vorfahren vor vielen Jahrhunderten haben errichten lassen, ist ein wuchtiger, weitläufiger, leider auch etwas vorwahrloster Bau mit zahlreichen geräumigen Zimmern und unheimlichen, schier endlos verzweigten Gängen. Mit seinen massiven, ehernen Toren, den spitzzulaufenden, meistenteils vergitterten Fensternischen und den runden, himmelanragenden Türmen ruht es gravitätisch und ehrwürdig auf einer steilen, reichlich bewaldeten Anhöhe, umgeben von einer malerischen und traumhaft anmutigen Landschaft, deren Herrlichkeit so einmalig, so vollkommen und so unberührt ist, daß es mir überaus schwerfällt, diese paradiesische Schönheit in Wort zu formen und niederzuschreiben. Gänzlich abgeschieden von tosendem Lärm und ruhelosem, geschäftigem Treiben unserer Tage liegt ein wundervoll gewundenes Tal zu den Füßen meines Schlosses. Muntere Rinnsale und Bächlein, angefüllt mit glänzenden, diamantfunkelnden Kieselsteinen, plätschern von den Berghängen ringsumher auf mannigfaltigen Wegen herab, um in ein sanftschimmerndes, leise murmelndes Flüßchen zu münden, das sich, von saftiggrünen Ufern eingesäumt und von blütenreichen Buschwald beschattet, durch den lieblichen Wiesengrund schlängelt. Die frohleuchtende Farbenpracht der phantastischen, süßduftenden Blumen und der einzigartigen, märchenhaft gestalteten Sträucher, die mit berauschender Üppigkeit in dieser verschiegenen Talenge blühen, zwischen den buntschillernden Wasserläufen ungehindert wuchern und sich träumerisch im Winde bewegen, steht im krassen, unüberbrückbaren Gegensatz zu der düsteren, niederdrückenden Stimmung, die das steingraue, altertümliche Schloß unbarmherzig verbreitet.

Es läßt sich kaum länger verheimlichen, daß der Zahn der Zeit mit einer unerbittlichen Hartnäckigkeit sondersgleichen am Hause nagt und mein Besitz langsam, aber unweigerlich dem Verfall preisgegeben ist. An den moosigen, erfeuumsponnenen Außenmauern entstehen bereits tiefe, unübersehbare Risse. Der Regen sickert unaufhaltbar durch das löcherige, einsturzgefährdete Schieferdach und durch die Fensterritzen pfeift in den kalten Wintermonaten gnadenlos der rauhe Sturmwind.

Die renovierte Empfangshalle im Hauptgebäude, wo in verflossenen Zeiten regelmäßig rauschende Feste gefeiert worden sind, ist vielleicht noch der einzige Raum, welcher den heutigen Ansprüchen annähernd gerecht wird. Mit der modernen Wandverkleidung, den geschmackvoll zusammengestellten Stilmöbeln, den hellfarbigen Vorhängen und den zierlichen, unauffälligen Wandleuchten verschafft er eine herzliche und behagliche Atmosphäre, die jedem Anwesenden vergessen läßt, daß er in einem baufälligen Schloß verweilt.

Nur die riesenhafte, verschnörkelte Standuhr aus stabilem, dunkelgetöntem Eichenholz, die aus der Zeit meiner Großeltern stammen dürfte, wurde auf ihrem festen Platz, zwischen zwei länglichen Bogenfestern, in der Halle, belassen. Mit diesem Erbstück hatte es eine besondere Bewandtnis; ich werde nachher noch im einzelnen darauf eingehen.

Ganz selten kommt jedoch Besuch in den elegant möblierten Salon. Ich kann hierbei nicht verschweigen, daß die Leute aus den weitverzweigt umliegenden Dörfern und Weilern sich höchst ungern in meinem Haus und in dessen Nähe aufhalten. Um die Wahrheit restlos zu offenbaren, muß ich ohne längere Umschweife schildern, daß ich einem Geschlecht entstamme, das sich durch eine abnorme Phantasie auszeichnet und in dem Psychopathie und psychosische Erkrankungen regieren. Mein Großvater Theoderich, der, von Geistesnacht umpfangen, auf bejammernswerte Art und Weise umgekommen war und den schmachvollen Beinamen "der Wahnsinnige" erhielt, hatte unsere vormals angesehene Familie durch seine fluchwürdigen Untaten in schlechten Ruf gebracht. In einem jähen Anfall hereinbrechenden Irrsinns hatte er meine Großmutter mit dem schweren Eisenpendel jener Standuhr meuchlings niedergeschlagen, worauf sie hilflos wimmernd zu Boden stürzte und in ihrem Blute sich wälzend den Geist aushauchte. Theoderich der Wahnsinnige, der in seinem bedauerlich umnachteten Dasein nicht nur auf seine Gemahlin giftigen Haß gesät, sondern gegen alle Frauen bitteren Groll gehegt hatte, soll angeblich in einer seiner verrückten Stunden das weibliche Geschlecht zum Teufel gewünscht und obendrein noch auf dem Sterbebett die prophetischen Worte hervorgebracht haben, daß jedes Weib, das die Türschwelle des Schlosses überschreitet, eines unnatürlichen und grauenvollen Todes sterben werde.

Auch mein Vater konnte diesen üblen Leumund, der seitdem beständig auf uns lastete, nicht beseitigen, vielmehr setzte er die Reihe ruchloser Gräueltaten fort, um unsere geschädigte Ehre endgültig und für allezeit zu beflecken. Seine urvorhersehbaren Zornanwandlungen, die sich häufig in hemmungslose Tobsuchtsanfälle und gemeingefährliche Raserei steigerten, schlugen meiner empfindsamen Mutter derart auf das Gemüt, daß sie in Hysterie verfiel, bisweilen schreckliche Schreikrämpfe bekam und an einem entsetzlichen Kreislaufkollaps elendiglich zugrunde ging. Noch in derselben Stunde, da die Beklagenswerte unvermittelt zu Tode niedersank, legte mein Vater Hand an sich.

Von den ehemaligen Marotten, den krankhaften, in Fleisch und Blut übergegangenen Angewohnheiten der Abgeschiedenen möchte ich nur eine aufzeichnen, die ich für den weiteren Verlauf meiner Schilderung als eminent bedeutsam erachte. Die Standuhr (aus der, wie ich bereits vorhin erwähnt habe, mein Großvater in seiner Geistesgestörtheit das Pendel herausgerissen und ohne jeglichen Skrupel gegen meine wehrlose Großmutter geschmettert hatte) war auf damalige Anweisung meiner Mutter sofort repariert und seither von ihr tagaus, tagein mit unüberbietbar pedantischer Genauigkeit abgestaubt, geölt und hochglänzend poliert worden. Mir ist lebhaft erinnerlich, daß sie vor allem in den letzten Lebensjahren das zimmerhohe Ungetüm wie ihren Augapfel gehütet hatte und kein Psychologe imstande gewesen war, Genesung zu erwirken und ihr diesen Spleen auszutreiben.

In der Unglücksnacht, da meine Eltern das Zeitliche segneten, ging eine ungeahnte Verwandlung in der kuriosen Standuhr vor: sie war mit einemmale nicht mehr zum Gehen zu bringen. Ihr Inneres erschien vollständig von einer Rost- und Schmutzschicht bedeckt. Während in den vergangenen Jahren ihre tieftönenden Schläge durch die unendliche Weite meiner Räumlichkeiten schauervoll gehallt und die hohlen Klänge in mir ein sonderbares Unbehagen, wenn nicht gar beklemmende Angstgefühle ausgelöst hatten, war es nun ungewohnt still, totenstill.

Um so erstaunlicher mutete es mich an, als zu jener schwülen, glutvollen, unvergessenen Sommernacht, da meine abgöttisch geliebte Anja erstmals das Schlafgemach mit mir teilte, diese Uhr mit ihren monotonen, unüberhörbaren Ticken und den vollklingenden, echoenden Glockenschlägen das Haus aufs neue durchschallte. Der Rostbelag hatte sich überraschenderweise aufgelöst und überdies schienen die Metallteile säuberlichst geputzt worden zu sein. Ich mutmaßte, daß einer meiner Bediensteten das Uhrwerk gründlich gereinigt und von der ekelhaften Zersetzungsschicht befreit habe. Allerdings war ich seinerzeit an der Sache nicht sonderlich interessiert gewesen.

Nach unserer standesamtlichen Trauung Ende Juli lebte ich einige Monate sorglos und zufrieden mit Anja zusammen, ohne daß erwähnenswerte Vorkommnisse eintraten. Da ich unerwartet von einem vermögenden Verwandten, der an einer akuten Herzkrankheit auswärts verstorben war, ein beträchtliches Vermögen erbte und außerdem in letzter Zeit leicht kränkelte, lag es mir völlig fern, einer geregelten Arbeit nachzugehen. Tagtäglich vertrödelte ich ungezählte Stunden am obersten Turmfenster und beschaute voller Bewunderung und Entzücken die grandiose und unvergleichlich betörende Pracht meiner idyllisch verborgenen Umgebung. In aller Frühe verfolgte ich das monumentale Schauspiel der aufgehenden Morgensonne mit seinen pittoresk reizvollen Farben: die schwindende Nachtschwärze, das aufhellende, allmählich ins Blaue übergehende Himmelsgrau, der emporsteigende, blutorangenhafte Sonnenball, die flammende Rötung am Gewölk und die landerwärmenden, schattenverdrängenden Lichtstrahlen, die sich in den quellklar dahinfließenden Gewässern blendend widerspiegeln. Mehr und mehr versank ich in sinnlichen Träumereien bei den stillen Betrachtungen über dieses einsame und romantische Tal.

Es mag zutreffen, daß ich mich in diesen Wochen wenig um meine Lebensgefährtin gekümmert, ja, sie möglicherweise sogar äußerst vernachlässigt habe, weil ich aufgrund meiner seelischen Depressionen, an denen ich litt und wegen einer schlimmer werdenden Nervenschwäche, die mich unausgesetzt peinigte, verständlicherweise mit mir selbst vollauf beschäftigt war. Welchen Grund hätte es wohl sonst noch geben können, daß ich weder jener tiefgehenden, pathologischen Veränderung ihres zarten, mimosenhaften Wesens innewurde, noch die unaufhaltsam fortschreidende Verdorrung ihres süßen, liebreizenen Leibes wahrnahm? Spät, viel zu spät, mit unerträglicher Schwermut meiner Seele, erfaßte und begriff ich letztlich das Ausmaß und die Gefährlichkeit der schmerzvollen, verderbenbringenden Krankheit, die schonungslos in ihr wütete, mit beharrlicher, satanischer Gründlichkeit ihren blutjungen, zerbrechlichen Körper durchdrang, ihre Nerven zerrüttete, ihre Bewußtseins- und Denkkraft einschränkte und ihre ganze Persönlichkeit zerstörte.

Mit einem Schlage, jäh und unvermutet, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, wurde das bezaubernde Geschehen in der Natur, das um mich vorging und dessen grenzenlose Großartigkeit ich bisher zutiefst bewundert hatte, durch das traurige Schicksal, das mich ereilte, aus meinen Sinnen ausgewischt und vergessen. Anja, ein Engel von berückender Holdseligkeit, anziehendem Charme, verführerischer Anmut und faszinierender Liebenswürdigkeit war vom Tod erbarmungslos hingerafft worden!

O welch' Unheil ist über mich gekommen! Nie kann ich den schreckensvollen Anblick vergessen, wie sie entseeit vor der Standuhr lag, wo ich sie an jenem Oktobertag zur mitternächtlichen Stunde aufgefunden habe. Ähnlich wie bei meiner Mutter haben psychische Störungen und ein bösartiges, unheilbares, mit verzehrendem Fieber und widerlichen Muskeikrämpfen einhergehendes Nervenleiden ihre strahlend blauen Augen verdunkeln, ihre rosigen Wangen erbleichen und ihr holdes, zärtliches Lächeln erstarren, für immer und ewig erstarren lassen.

Fortan wirkte die klösterliche Abgeschiedenheit des uralten Schlosses, die ich zuerst wundersam und eindrucksvoll gefunden hatte, für mich beängstigend und bedrückend. Das trostlose Gebäude, das ich nach dem schmerzlichen Tod meiner Liebsten nur noch mit der bejahrten Dienerschaft bewohnte, wurde für mich unsagbar lästig. Jeder Tag, den ich innerhalb der feuchten, altersschwachen Mauern zubrachte, bedeutete für mich eine außerordentliche seelische Marter. Jede Stunde wurde ich durch einen unglücklichen Umstand oder einen zufällig in die Hände geratenen Gegenstand an das tragische Geschick erinnert. Wiederholt beschlich mich sogar das gräßliche Gefühl, Anja lauere hinter meinem Rücken und ich spüre ihren heißen Atem im Nacken. Mehrmals am Tage geschah dies und ich blickte mich daher des öfteren ruckartig und zu Tode erschrocken um. Doch nur Leere, gähnende Leere und Einsamkeit, quälende Einsamkeit umgaben mich. Und in dieser sinnbedrückenden Verlassenheit, geplagt von den Drangsalen des Lebens, erfüllt von überwallender Trauer und heillosem Gram, weinte ich gar manche Nacht salzige Tränen.

Nach den Weihnachtsfeiertagen faßte icn den Beschluß, alles, was in mir die leidvolle Erinnerung an meine einstige Angebetete wachrief, kurzerhand auszusondern und fortbringen zu lassen, weil ich hoffte, so besser den harten Schicksalsschlag verwinden zu können. Wehmütig sah ich meinen eifrigen Dienern zu, die mit einer gewissen Gleichgültigkeit die prächtigen Gewänder und den wertvollen Schmuck der Verblichenen in riesige Truhen verstauten und aus dem Haus schafften. Ich selbst entfernte von den Wänden verschiedener Räume die meisterhaften Ölgemälde, die Anja darstellten und teilweise fürwahr ausgezeichnet getroffen waren und schleppte sie mühevoll in eine niedrige, spinnwebenbehangene Gerümpelkammer im Dachgeschoß. Hier ließ ich meine Blicke nochmals über die staubbedeckten Kunstwerke wandern. Und siehe! Anjas ohnehin naturhafter, wirklichkeitsnaher Gesichtsausdruck kam mir bei allen Bildern auf einmal ausgesprochen lebensecht, ja, unfaßbar lebensgetreu vor. Wenngleich diese erschreckende, scheinbare Lebendigkeit vermutlich allein die ungenügende Beleuchtung des Käfterchens bewirkte, (beziehungsweise meine aufgewühlte Einbildungskraft mir diesen Effekt vorgaukelte) dachte ich sofort an einen teuflischen Spuk. Um mich der Schreckensbilder schleunigst zu entledigen, versperrte ich sie hastig in wackelige, wurmstichige Kommode und verließ eilends, wenn nicht sogar fluchtartig, die gruselige Dachstube, in der Absicht, sie niemals wieder zu betreten.

Auch in die tiefgelegenen Kellergewölbe, wo sich die geheimnisumwitterte Grabkammer befindet, in der die Gebeine meiner unrühmlichen Vorfahren vermodern und verwesen und nun auch Anja ihre letzte Ruhestatt erhalten hat, wagte ich nicht meinen Fuß zu setzen. Um alles in der Welt mochte ich nicht mehr an die jüngste, unliebsame Vergangenheit gemahnt werden.

Am Neujahrsmorgen meldete mir ein Knecht, daß die altväterische Eichenholzuhr seit einiger Zeit ihren Dienst versagt habe und reparaturbedürftig sei. Jetzt erst bemerkte ich, daß in den letzten Wochen das stündlich dröhnende Schlagen verstummt und eine absolute, beinahe verbitternde Friedhofsruhe in den öden Sälen eingekehrt war. Durch das unermeßliche Herzeleid und den brennenden Seelenschmerz hatte ich bislang nicht auf derartige Nebensächlichkeiten geachtet.

Die Standuhr schien ihrer Tätigkeit nunmehr immerdar aufgegeben zu haben. Als ich eingehendst den Defekt besah, entdeckte ich, daß das Räderwerk von einer gelbbraunen, bröckelnden Rostmasse überzogen und unbrauchbar war. Mich wunderte, daß ich die dunkelholzige Riesin nicht schon längst weggegeben hatte, denn sie war es doch, die mich am meisten an den unersetzlichen Verlust erinnerte. Hier war es ja gewesen, wo ich den reglosen, schmerzverkrümmten Körper gesehen hatte, unmittelbar vor dieser Uhr liegend.

Die schnörkeligen Zeiger standen unbeweglich auf Punkt zwölf. Während ich diese Feststellung traf, kam mir zum Bewußtsein, daß gleicherweise mit dem Dahinscheiden meiner Geliebten die Uhr ihr Leben abrupt beendet hatte. Ich gelangte zu der Erkenntnis, daß dieselben mysteriösen Begleitumstände beim Tode meiner Mutter aufgetreten waren.

Verstört blickte ich auf die verwischte, rostfleckige Zahlenscheibe und ungereimte, irrsinnige Gedanken kreisten unentwegt in meinem Kopf. Hatte meine Anja, gleichwie meine Mutter nicht eine bemerkenswert absonderliche Zuneigung jener Uhr entgegengebracht? War sie nicht bei jedem Glockenton schreckensbleich zusammengezuckt? Ich bemühte mich fortwährend, mir verständlich zu machen, daß alles nur Einbildung sei und schrieb schließlich meine häßlichen Gedankengänge der langwierigen Neurasthenie zu, die meine Gemütsverfassung zunehmend verdüsterte. Dennoch konnte ich mich der Tatsache nicht verschließen, daß meine Frau, als sie zu jener unheilvollen Mitternachtsstunde leblos in der Halle lag, ihre feinen, weißen Hände nach der großväterlichen Uhr ausgestreckt hatte und ihre erloschenen Augen auf das verblichene Zifferblatt gerichtet waren. Ist meine Mutter nicht auch vor dieser Uhr gestorben? Ich kann mich nicht besinnen, ich will mich auch nicht mehr besinnen!

Doch bald waren die verworrenen Erinnerungen an diese vermaledeite Standuhr, die mir ein scharfes, vernünftiges Denken unmöglich gemacht und mein Hirn förmlich gelähmt hatten, meinem Gedächtnis entschwunden. Ich unternahm eine ausgedehnte, erholsame Reise in mehrere sehenswerte Länder unseres Kontinents. Meine chronischen Leiden wichen in der Fremde nach und nach von mir. Ich fühlte mich von Tag zu Tag merklich wohler und gewann wieder neuen Lebensmut. So verstrichen Wochen und Monate, ohne daß mich unangenehme Ereignisse beschatteten. Ein milder Frühling und ein heißer Sommer kamen und gingen ...

Als ich mich bereits wieder auf der Heimfahrt befand und in einer lärmerfüllten und übervölkerten Großstadt weilte, hatte ich ein merkwürdiges und nachwirkendes Erlebnis. Ich kann mich noch genau an jenen diesigen Oktobertag zurückerinnern. Der herbstliche Nebel wallte stellenweise so dicht und undurchdringlich, daß man mitunter nur schemenhaft die gegenüberliegende Straßenseite zu erkennen vermochte. Es begann schon zu dämmern, als ich meinen Schritt in eine krumme Nebengasse lenkte und mir plötzlich ein kleiner, bescheidener Antiquitätenladen auffiel. Mein Augenpaar hatte sich an das unscheinbare Schaufenster geheftet, ohne daß ich im ersten Moment eine hinreichende Begründung für dieses Verhalten anzugeben wußte. Ich mochte einige Sekunden wie gefesselt durch das schmutzverschmierte und nahezu blinde Glas gestarrt und verwundert die trübselige Ausstattung betrachtet haben, als ich unwillkürlich zusammenzuckte. Das kann doch nicht mit rechten Dingen zugehen, schoß es mir durch den Kopf. Im Ladeninnern stand in einem abseits gelegenen Winkel, aber trotzdem überdeutlich sichtbar, zwischen unnützen, schmucklosen Gegenständen, bizarren, breiteingerahmten Bildern, mannigfachen, wunderlichen Teufelsfiguren und ausgedienten, deformierten Geräten meine Standuhr, oder besser ausgedrückt: eine Standuhr, die eine frappierende Ähnlichkeit mit der meinen besaß.

Ohne zu zögern trat ich ein. Der Verkäufer, der aus einer Nebenstube kommend, schwerfällig auf mich zuhumpelte, entpuppte sich als ein kahlköpfiger und korpulenter, um nicht zu sagen aufgeschwemmter Greis mit zerschlissener, schmuddeliger Gewandung. Er hatte schweigend eine gelumpige Petroleumlampe entzündet, deren Lichtschein zwar dürftig den vorderen Raumabschnitt erhellte, jedoch die schwarzgraue Düsterkeit, die im hinteren Teil und vor allem zwischen den überfüllten Holzregalen lagerte, nicht zu verbannen vermochte. Mit starrgeöffneten, blutunterlaufenen Augen gaffte er mich aufdringlich und neugierig an. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, daß er tagelang keinen Menschen zu Gesicht bekommen habe. Darüber war ich jedoch keineswegs erstaunt. Die äußere, unsaubere Erscheinung und das knurrige, abweisende Wesen des Ladners, geschweige denn die geschmacklose, heruntergekommene Inneneinrichtung des Geschäftes mit den minderwertigen, zum Verkauf angebotenen Altwaren - abgelagerter, schrottreifer Trödelkram - mußte die in dieser Branche ohnehin dünngesäte Kundschaft ja buchstäblich abschrecken. Sein anfängliches Benehmen empörte mich dermaßen, daß ich meinen Unwillen kaum zurückhalten konnte; der widerwärtige Greis hatte es nämlich nicht einmal für nötig befunden, meinen Gruß zu erwidern.

Als ich mich nach dem Preise jener geheimnisvollen Uhr befragte, bot sie mir der Alte, eine verächtliche, wegwerfende Geste machend, ungewöhnlich billig an. Obwohl er jedes einzelne Wort mürrisch und widerwillig hervorpreßte und in seiner grölenden Stimme ein Unterton grundloser, fast verletzender Bissigkeit mitschwang, ließ ich mir meine Verärgerung nicht anmerken, denn mein Interesse galt ausschließlich der Standuhr. In der Meinung, es würde sich hierbei um ein seltenes Exemplar (und überhaupt um den einzigsten verkäuflichen Gegenstand von all dem dargebotenen Plunder) handeln, erkundigte ich mich bei dem Murrkopf, warum er sie zu einem derart lächerlichen Spottpreis hergeben wolle.

Der hochbetagte, ungepflegte Mann beugte sich leicht zu mir vor. Ein fauliger Geruch strömte von seiner Kleidung aus, den ich fürchterlich abstoßend empfand. Seine schiefstehenden Zähne wie ein tollwütiger Bluthund fletschend, knurrte er: "Diese Uhr steht schon jahrzehntelang in meinem Laden. Das Räderwerk hat infolge der anhaltenden Raumfeuchtigkeit Rost angesetzt und ist keinesfalls mehr zu reparieren. Deswegen muß ich sie fast verschenken, obschon das Gehäuse noch einigermaßen ansehnlich ist und sicherlich von beachtlichem Wert sein dürfte."

Als ich das Uhreninnere nach der genannten Beschädigung genauestens durchsuchte, stellte ich mit unverhohlenem Erstaunen fest, daß es nicht die geringste Spur irgendeiner Zersetzungserscheinung aufwies. Offensichtlich war das Triebwerk kürzlich mit löblicher Sorgfalt gesäubert und gepflegt worden, denn die gezahnten Rädchen blinkten und glitzerten im müden Scheine der armseligen Petroleumfunzel.

"Die Uhr ist vollends in Ordnung! Es sind keinerlei Schäden erkennbar", rief ich aus.

Daraufhin begutachtete der greise Geschäftsmann verdrossen die Eingeweide der obskuren Uhr. Er erschrak dermaßen, daß ich im ersten Augenblick glaubte, er würde hinter seinen primitivcn Ladentiscn ohnmächtig zusammenbrechen. Die schielenden Augen weit aufgerissen, als erspähe er Tod und Teufel zugleich, glotzte er mich konsterniert und begriffstutzig an.

"Mein Herr", stammelte er nach längerem Schweigen und seine Knurrigkeit war mit einemmale verflogen und hatte sich in Fassungslosigkeit gewandelt, "mein Herr, ich vermag dies nicht zu verstehen! Rost und Grünspan hatten das Räderwerk unrettbar zerfressen. Sollte irgend jemand diese Uhr ausgetauscht haben? Eigentlich läßt sich der Fall nicht anders deuten."

Gemächlich betätigte ich den Kettenaufzug. Lautes, regelmäßiges Ticken erscholl und übertönte die vielfältigen Verkehrsgeräusche, die von der winkeligen Gasse gedämpt zu uns hereindrangen. Alsdann hob die Uhr an zwölf zu schlagen. Aus ihrer metallenen Brust dröhnten die mir wohlbekannten, melodiösen, gewaltigen und gebieterischen Gongschläge.

Der Glatzköpfige entsetzte sich noch mehr. Er fuchtelte mit seinen ungelenkigen, zu kurz geratenen Armen in geradezu wahnsinniger Verzweiflung umher, wobei er aus vollem Halse schrie: "Um Himmelswillen! Der Satan treibt hier sein Unwesen! Das Schlagwerk habe ich doch im Vorjahr ausgebaut, weil es der einzige Teil war, der noch funktionierte und den man noch verwerten konnte." Dann wurde seine Stimme immer unbeherrschter und undeutlicher. Er gab unartikuliertes Gestammel von sich; zuletzt grunztc er nur noch.

Als die hochgradige Erregung des Händlers endlich nachgelassen hatte, fragte ich ihn betont höflich, wann er denn zum letztenmal nach dieser Uhr gesehen habe.

Mein Gegenüber lehnte sich marode und abgekämpft an die mangelhaft verkalkte Wand, schüttelte heftig sein kahles Haupt und raunte mir zu: "Mitte Oktober vorigen Jahres, mein Herr! Ich weiß es zweifelsfrei, denn sie schlug unerklärlicherweise zur Mitternacht an, ohne daß ich mich entsinnen konnte, sie jemals aufgezogen zu haben. Wie ich eben erklärt habe, entfernte ich aus dem Uhrenkasten kurzentschlossen das Schlagwerk, weil ich eine Wiederholung des Höllenspukes befürchtete und unter allen Umständen vermeiden wollte."

Das Perpendikel schwang träge in einlullender, fast hypnotisierender Gleichförmigkeit hin und her, hin und her, hin und her ... und von neuem mußte ich an Anja denken. Schauerliche, abwegige Vorstellungen stiegen mir in den Sinn und brannten sich wie glühendes Eisen in meinem Gehirn ein.

Die Standuhr des Antiquitätenhändlers war also demnach bis vor einem Jahr unreparierbar beschädigt und hatte erheblich unter Feuchtigkeitseinwirkung gelitten. Just zu dieser Zeit ist aufgefallen, daß die Uhr in meinem Empfangssalon dem Rost ergeben war, wohingegen die des verschrobenen Trödlers wieder in frischem Glanze erstrahlte. Gleichermaßen zwölf Monate ist es her, als wir die sterbliche Hülle meiner Gemahlin in den unterirdischen Grabgewölben bestattet haben. Das Unheimlichste nach meiner Ansicht ist jedoch, daß die Uhr beim Tode meiner Mutter ebenfalls ihren Dienst verweigert hat und ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als Anja mein Haus betrat, zu neuem Leben erwachte und die verrinnenden Stunden wieder ordnungsgemäß anzeigte. Sind dies alles nur launische Spiele des Zufalls? Was würde beispielsweise geschehen, wenn ich jetzt diese einwandfrei richtiggehende Uhr heimnähme?

Von anstrengendem Nachdenken ziemlich benommen, fuhr ich mit zitternder Hand über meine schweißbedeckte Stirn. Kopfschüttelnd beobachtete ich den unausstehlichen Dickwanst, dessen feistes, geschwollenes Vollmondgesicht jegliche Farbe verloren und ein schreckenerregendes makabres Aussehen angenomen hatte. Inniglichst flehte er mich an, das antike Stück doch mitzunehmen.

"Ich schenke ihnen das Teufelsding. Ich lasse es ihnen morgen ohne Berechnung anliefern", lallte es aus seinem Munde. So gab ich ihm Name und Adresse bekannt und verabschiedete mich.

Am Vormittag des darauffolgenden Tages wurde die rätselhafte Standuhr von einem klapperigen Kastenwagen in mein Schloß gebracht. Meine Bediensteten stellten sie behutsam in dem Winkel auf, wo bislang ihre verblüffend ähnlich aussehende Vorgängerin ihren Platz eingenommen hatte. Beim schnellen, unvorsichtigen Abtransport über die hohen, unbequemen Treppenstufen und durch die langen, kurvigen Gänge barst unglücklicherweise das alte, rostzerfressene Monstrum in zahllose Bruchstücke, so daß wir nichts anderes mehr tun konnten, als die nutzlosen, verschmutzten Trümmer wegzuwerfen. An eine eingehende Untersuchung der jämmerlichen Übrigbleibsel hatte ich, wie ich zugeben muß, in meiner Vergesslichkeit nicht rechtzeitig gedacht. Nun ließ sich beim besten Willen nicht mehr ermitteln, ob das besagte Schlagwerk noch vorhanden war.

Die neuerworbene Standuhr schlug durchdringend jede Stunde wie in den vergangenen Zeiten und auch das gewohnte Ticken tönte in einschläfernder Langweiligkeit durch die Schloßhalle.

Mit der ersten Stunde, ja, fast mit der allerersten Minute, die ich in meinen vertrauten vier Wänden zubrachte, trat in meinem Gesundheitszustand wider Erwarten eine Wandlung zum Schlechten ein. Je länger ich die muffige, gramgeschwängerte Luft meiner Behausung einatmete, desto ärger geriet ich in depressive Verstimmung. Die Symptome einer heranschleichenden Nervenerkrankung mehrten und verstärkten sich. Ein entmutigendes Gefühl auswegloser Trostlosigkeit bemächtigte sich meiner und ließ mich allzutief im Kummer wühlen. Mein altes Übel, von dem ich mich geheilt wähnte, hatte zu meiner größten Verbitterung wieder unvermindert eingesetzt. Die bohrenden, migräneähnlichen Kopfschmerzen vermochte ich kaum zu verbeißen; auch eine bedenkliche Überdosis starkwirkender Tabletten konnte sie nicht vertreiben. Während eine überquellende Melancholie mein gesamtes Denken beeinträchtigte, trübe Ahnungen mein Herz beklemmten und unergründliches Weh auf meiner Seele lastete, übermannte mich eine lähmende, unüberwindliche Mattigkeit und legte sich mitleidlos über meinen geschwächten Körper.

Die unbegreiflichen Geschehnisse, die sich im Zusammenhang mit der Uhr ereignet hatten, quälten mich hartnäckig. Stundenlang rätselte ich, ob vielleicht doch jemand die Objekte ungesehen vertauscht haben könnte. Fest stand lediglich, daß es der unsympathische Altwarenhändler, dessen verquollenen, rotumränderten Triefaugen sich unauslöschlich in meinem Gedächtnis eingeprägt hatten, bestimmt nicht getan hatte. Er konnte keinerlei Gewinn daraus ziehen, hatte er mir doch die Uhr großzügigerweise kostenlos überlassen.

Schließlich beorderte ich mein Gesinde zu mir. In knappen Worten erzählte ich den undurchschaubaren Vorfall. Doch keiner der Anwesenden konnte hierüber positive Angaben machen. Ausgenommen Joseph, der mir damals berichtete, die Uhr sei schadhaft geworden, antwortete, daß er sich freilich gewundert habe, weshalb das Getriebe binnen weniger Tage eingerostet wäre und daß auch er den dringendsten Verdacht hege, sie sei von jemandem insgeheim ausgewechselt worden. Nach reiflicher Überlegung dementierte er seine Stellungnahme jedoch wieder. Ein unbemerkter Tausch erschien ihm einfach undenkbar, weil das Schloß stets verhältnismäßig sicher abgeschlossen ist und niemand derartige Wahrnehmungen gemacht hat.

Als ich mich an diesem Abend zu Bette begab, vermochte ich eine geraume Weile nicht einzuschlafen. Die abstruse Geschichte jener gottverfluchten Uhr bereitete mir großes Kopfzerbrechen. Wie besessen, grübelte ich darüber nach, ohne jedoch zu befriedigenden Ergebnissen zu gelangen. Schweißtriefend wälzte ich mich auf meinem Nachtlager und suchte vergebens die alptraumhaften und furchterweckenden Phantasiegebilde abzuschütteln, die mich während meines fruohtlosen Nachsinnens hart bedrängten. Doch unversehens wurde ich durch befremdliche Laute aus meinen wirren Grübeleien gerissen. Ich erschauderte, denn ich bildete mir ein, das kummervolle Seufzen und Wehklagen einer jungen Frau zu hören. Leise erhob ich mich von meiner Lagerstatt, tappte vorsichtig durch den unbeleuchtenden Raum, öffnete zaghaft meine Zimmertüre und lugte angsterfüllt auf den staubigen, mit veralteten Zierat überladenden Bogengang hinaus. Da vernahm ich wie die Standuhr mit ihren sonoren, spukhaften Glocken- klängen die Geisterstunde ankündigte. Gleich hernach umgab mich eine atemlose Grabesstille.

Ärgerlich tastete ich mich wieder zu meiner Schlafstätte. Ich redete mir pausenlos ein, nur den lamentierenden Sturmwind, der momentan leidlich vom Fenster hereinwehte und die Vorhänge derart aufbauschte, als ob sie von lebendigen Wesen in Bewegung gesetzt würden, für das gespenstische Gestöhne gehalten zu haben. Zudem konnte sich in dem Gebäudeteil, in dem mein Schlafzimmer liegt, kaum jemand zu dieser vorgerückten Stunde aufhalten, denn meine Dienerschaft wohnte ausnahmslos in den Gelassen am entgegengesetzten Gebäudeende.

Irgendwann mußte ich dann überraschend in Schlaf gesunken sein, denn horrible und nervenzerrüttende Visionen marterten mich die ganze Nacht. Von panischer Todesangst ergriffen, schreckte ich oftmals hoch, jagte, von eiskaltem Schauder geschüttelt, mit einer flackernden, tropfenden Kerze durch meine dumpfige Kammer und äugte, weil ich vermeinte, eine fremde Person befände sich in meinem Zimmer, unter das Bett, in die morschen Schränke und hinter die faltigen, windbewegten Vorhänge. Ich verwünschte mich selbst, weil ich in dem betreffenden Schloßflügel noch kein elektrisches Licht hatte installieren lassen.

Kaum daß ich wieder eingedöst war, wiederholten sich diese schaudererregenden Alpträume. Einmal sah ich unverkennbar den verhaßten, fett leibigen Antiquar, dessen aschgraue, abscheulich aufgedunsene Visage sich zu einem breiten, sarkastischen Grinsen verzog, wobei sich die wulstigen Lippen öffneten und eine Reihe fauler, vorstehender Zähne entblößten. Aus seiner garstigen Maulöffnung quoll ein ekliger Verwesungsgestank, als er mir mit brüchiger Grabesstimme zuröhrte: "Jetzt ist die Uhr in deinem Haus, jetzt wird auch deine Anja bei dir sein."

ErIöst von diesen Träumen voller Gräuel erwachte ich, als die hellen Strahlen der goldenen Herbstsonne mir auf das Gesicht fielen.

Mein erster Gang an diesem Morgen führte mich instinktiv zur Standuhr. Das gleichmäßige Ticken war zu hören. Ich konnte augenblicklich nichts Fremdartiges oder Ungewöhnliches beobachten und doch - irgend etwas Unbestimmtes mußte in der Halle vorgegangen sein. Über Nacht hatte sich irgend etwas verändert. Aber, was war es, das mich so beunruhigte, mir Herzensangst einjagte, meinen Hals förmlich zuschnürte, meinen Verstand verwirrte und mein Dasein vergällte?

Unablässig fixierte ich die Uhr. Durch das Glas erblickte ich das nimmermüde und einförmig hin und her schwingende Pendel. Erst jetzt entdeckte ich in der spiegelnden Scheibe, daß ganz andere Vorhänge die Fenster verzierten. Mit eisigem Erstarren erkannte ich die samtigen Gardinen, die zu Anjas Lebzeiten ständig im Raum gehangen und ihr wegen des auffällig gesprenkelten Farbenmusters ausnehmend gut gefallen hatten.

Energisch trommelte ich meine Bediensteten herbei und zeigte aufgebracht nach den Fenstern. "Ich hatte doch strengstens befohlen", knirschte ich in unbändigem Zorn, "daß diese elenden Fetzen niemals mehr verwendet werden sollen!"

In den Mienen der Versammelten lagen Bestürzung und Empörung. Sie zuckten unwissend mit den Achseln und murmelten unverständliche Worte. Da niemand Anstalten machte, den Stein des Anstoßes zu entfernen, riß ich selbst den Stoff in einer Anwandlung rigoroser Entgleisung von den Leisten, zerschlitzte ihn unter gotteslästerlichen Flüchen und übergab die Reste dem prasselnden Kaminfeuer. Genüßlich begaffte ich die züngelnden, hochlodernden Flammen, die begierig den kostbaren Samt verschlangen.

Von dieser Stunde an fiel mir auf, daß mich meine Hausangestellten mieden und mir überall aus dem Wege gingen. Es erweckte den Anschein, als ob sie mich persönlich beschuldigen würden, die Vorhänge nachtsüber angebracht zu haben. Eine nervöse Unrast von wachsender Stärke überkam mich. Es war mir an diesem Tage unmöglich, auch nur einen Bissen zu essen. Aufgeregt lief ich ziellos durch das ganze Schloß, ohne eine einleuchtende Erklärung für diese eigentümliche Nervosität abgeben zu können.

Am frühen Nachmittag schloß ich mich in mein Zimmer ein und wartete, wartete und wartete. Auf was nur? Die Stunden dehnten sich zu Ewigkeiten. Der sonnige Herbsttag ging zur Neige; die Dämmerung breitete sich über das Land und grimme Schatten streckten sich zusehends in meiner Wohnung aus. Ich verließ mein Zimmer nur noch zum Abendessen. Doch verspürte ich wiederum keinen rechten Appetit. Vergeblich versuchte ich einige Brocken hinunterzuwürgen. Ich fühlte mich todunglücklich und sterbenselend. Mißmutig trottete ich erneut durch die schlauchartigen Gänge, bis ich in einer entlegenen Diele das Bildnis meiner dahingegangenen Anja prangen sah, welches ich eigenhändig mit mehreren anderen Gemälden vor etlichen Monaten in einem Schrank auf dem Dachboden verwahrt hatte. Keiner meiner Bediensteten besaß für diesen Raum einen Schlüssel und niemand wußte, wohin ich die Bilder geschafft hatte. Fassungslos und wie vom Donner gerührt verharrte ich vor Anjas lebensnahen Porträtkopf. Minutenlang vermochte ich mich nicht von der Stelle zu rühren. Hatte ich das Gemälde in meiner jammervollen Zerfahrenheit aus dem Versteck gezerrt, geistesabwesend durch das Schloß geschleppt und im hirnverbrannten Tun hier aufgehängt? Verfluchte Anja! Dreimal verfluchte Anja! Muß ich denn immer an dich erinnert werden?!

Ich riß das Porträt gewaltsam vom Haken und warf es voller Verachtung in hohem Bogen durch das offene Korridorfenster hinaus, worauf es hellklirrend drunten auf der Gartenterasse zersprang.

Anschließend schlich ich furchtsam in mein Gemach, um einer schlaflosen und unruhevollen Schauernacht zu harren. Doch entgegen allen Erwartungen mußte ich sogleich in tiefen Schlummer gefallen sein. Unverhofft erwachte ich nach einem grauenhaften Abdrücken, in dem ich den schwarzen Totenschrein meiner Anja deutlich vor Augen gesehen hatte. Mit überlautem, weithin hallendem Knarren hatte sich der Sargdeckel in die Höhe bewegt und eine Hand - eine wachsbleiche, abgemagerte, verkrüppelte Klaue - war schlagartig aus dem gefürchteten Kasten geschnellt.

Von Schweiß durchnäßt, richtete ich mich in den zerwühlten Kissen auf und rang nach Atem. Der sturmartige Herbstwind jaulte unaufhörlich und rüttelte unermüdlich an den ächzenden Fensterläden. Wiederum schlug es hohltönend dumpf zwölfmal. Da überwältigte und folterte mich ein Gefühl unnennbaren Grauens. Bleischwer wie ein aufhockender Nachtmahr drückte eine Beklemmung auf meiner Brust. Schaudernd floh ich aus meiner Liegestatt. Die beengende Finsternis nicht mehr ertragend, hastete ich ans weitgeöffnete Fenster. Ich klammerte mich an die Hoffnung, daß der großartige, nächtliche Ausblick nuf das herrliche, im sanften Mondschein gehüllte Tal mein marterndes Angstempfinden verscheuchen möge.

Die Herbstnacht war von einmaliger und unbezähmbarer Wildheit. Der böige und schneidende Südostwind ließ ununterbrochen tiefherabhänge Wolkenfetzen in rasender Geschwindigkeit am Firmament dahintreiben, wodurch der zauberhafte Lichtschimmer der silbernen Mondsicher auf das nachtblaue, wildwogende Meer stattlich hochstämmiger Bäume und üppigen, dichtbelaubten Strauchwerkes in eigenartiger, fesselnder und wechselvoller Unregelmäigkeit herableuehtete.

Indes, nicht die hervorstechende Romantik der schaurigschönen, mondbeglänzten Waldlandschaft, noch die frisch hereinströmende Nachtluft vermochte meine aufgepeitschten Nerven zu besänftigen. Die innere Unruhe, die mich nun schon seit zwei Tagen andauernd gequält hatte, überfiel mich von neuem mit unglaublicher, noch nie verspürter Heftigkeit. Vor lauter Aufregung fiebernd, wendete ich mich wieder dem finsteren Zimmerinneren zu. Ich mühte mich voller Anstrengung, der kläglichen Verfassung, in der ich mich gegenwärtig befand, Herr zu werden und endlich die wahre Ursache der nervlichen Überreizung und des nicht mehr auszuhaltenden Angstzustandes herauszufinden. Wie in der vorangegangenen Nacht zündete ich eine Kerze an, sah unter meine Bettstatt, durchwühlte die vollgepfropften Schränke, stöberte in Fächern und Schubladen, griff hinter die flatternden Gardinen und durchleuchte sämtliche Winkel und Ecken.

Da war mir, als ob ich irgendwo ein schaurig quietschendes und knarrendes Geräusch gehört hätte - das Geräusch einer Türe, die sich schleifend in ihren Scharnieren drehte. Kurz darauf wurden gespensterhafte, unsicher tappende Schritte vernehmbar. Anscheinend kam jemand langsam die Wendeltreppe empor.

Vermutend, ein Bediensteter sei aus triftigem Anlaß in diese Etage gelangt, um mir eine wichtige Nachricht oder gar eine Hiobsbotschaft zu übermitteln, verließ ich, von ernster Besorgnis erfaßt, unverzüglich mein Schlafzimmer und schritt erwartungsvoll auf den lichtlosen Flur hinaus.

Ein gliederlähmender Schreck durchfuhr mich siedendheiß, als mir jählings einfiel, daß ich am Abend sorgfältig alle Türen zugeschlossen und verriegelt hatte und somit für die übrigen Hausbewohner jeglicher Zutritt verwehrt war. Regungslos verharrend, horchte ich angespannt in die geheimnisbergende Dunkelheit hinein. Die Geräusche, die mich geängstigt hatten, konnte ich jedoch nicht mehr vernehmen.

In der felsenfesten Überzeugung, meiner erhitzten Phantasie zum Opfer gefallen zu sein, beabsichtigte ich bereits, mich in das unbehaglich dunkle Schlafgemach zurückzubegeben, als ein schwacher Luftzug, den offenbar meine fahrige, ungeschickte Handbewegung hervorgerufen hatte, die lichtspendende Stearinkerze verlöschen ließ.

Gramerfüllt schaute ich noch einmal den nächtigen Korridor entlang, der nur vom halben Mond und den flimmernden Sternen durch die schmalen Spitzbogenfenster spärlich ausgeleuchtet wurde. In dieser unruhigen Nachtstunde dünkte mir die kellerartig gewölbte Diele mit der unansehnlich schmutzigen Wandverkleidung und den lockeren, ausgetretenen Bodenplatten wahrlich nicht geheuer. Die unförmigen, anspruchslosen Möbelkolosse, die vielzähligen, aus grauer Vorzeit stammenden Trophäen und Waffenschilde und nicht zuletzt die überlebensgroßen Bildnisse meiner schnauzbärtigen Ahnen hatten zweifelsohne etwas unaussprechlich Drohendes an sich. Besonders schauderhaft dräute die schwarzbestrichene Buchenholztüre am äußersten Ende des Gewölbeganges, die ich mit dem erregenden Empfinden unerklärlicher Beklommenheit unverwandt anstarrte. In mir stieg ein komisches, dumpfes Gefühl hoch, als ob sie jeden Augenblick aufspringen und etwas ungemein Grauenhaftes eindringen würde. Eine unheimliche, fast unwirk­ liche Stille herrschte - die atembeklemmende Stille einer Totengruft ...

Meine bangen Vorahnungen hatten mich nicht betrogen. Mitten in der deprimierenden Lautlosigkeit und der angstvollen Spannung flogen die ausladenden, gewichtigen Flügel jener Korridortüre unerhört lärmend auf. Sie krachten mit derart wuchtigem und explosionsartigem Ungestüm nach beiden Seiten, daß die vielgestaltigen Verzierungen, ein mächtiges, ohrenbetäubendes Getöse erzeugend, von den Wänden herabrasselten. Vermochte ein Mensch oder ein kraftvoller Windstoß diese geballte Energie aufzubringen und ein derartiges Schrecknis zu verursachen? Nein! 0 Graus! Das war unzweifelhaft ein Werk des Leibhaftigen! Denn in der weitklaffenden Türöffnung ragte, wie aus dem Boden gewachsen, eine hagere, langgesteckte, schattenhafte Gestalt - ein Schemen aus der Unterwelt! Während sich meine klammen Finger haltsuchend in den schmierigen Putz salpeterdurchdrungener Mauern bohrten und ich in meiner Ratlosigkeit entgeistert und wie versteinert nach dem Gespenst stierte, huschte dieses allmählich und unhörbar näher, näher und näher ...

Der übermäßige Einfluß dieses unfaßlichen, unverhüllten und zügellosen Grauens wuchs bis zur vollkommenen Unerträglichkeit. Namenlose Angst saß mir im Nacken. Ein frostiger, erstarrender Schauer überrann meinen Rücken und ließ mir das Blut gefrieren. Ich fürchtete, mein Herzschlag müsse aussetzen. Vor Schrecken war ich wie gelähmt und außerstande, meine Glieder zu regen. Meine trockenen Lippen und meine ausgedorrte, verklebte Zunge bewegten sich krampfhaft im sehnlichsten Verlangen, einen verzweiflungsvollen Aufschrei höchster Seelennot auszupressen. Allein, nur ein ersticktes, kümmerliches Ächzen entrang sich meinen entkräfteten, hohlwirkenden Lungen.

O furchtbares Grauen! O maßloses Entsetzen! O qualvolle Pein! Das Atmen bereitete mir unsägliche Schwierigkeiten, in meinen Schläfen pochte es fieberhaft, mein Herz hämmerte wie toll und wollte im stechenden Schmerz schier zerspringen, als das weißgewandete Geschöpf zielbewußt auf mich zuschwebte und ich in ihm letztens meine einstmals geliebte, vergötterte - jetzt aber abgrundtief gehaßte, verabscheute Anja erblicken mußte. Angewidert betrachtete ich ihre Schreckensgestalt: abscheuerregend ausgemergelt, die leichenfarbenen Wangen eingefallen, die entblößten Zähne scheußlich verfault - vom Tod grausam gebrandmarkt! Ihre nackten, knochigen Arme streckte sie weit vor, die gekrümmten, spindeldürren Finger griffen besitzerhaschend nach mir, indessen ich mit einem langanhaltenden, mißtönenden Brüllen höllischer Seelenqual - jetzt war mir der Versuch gelungen, laut aufzuschreien - erschüttert, vor Furcht bebend und schlotternd, zurückwich.

Das grausige Gespenst fing an grell und durchdringlich zu lachen. Es erschallte ein Gelächter, das sowohl einem tierischen Gemecker, als auch einem heiseren Krächzen glich, in der weiten Unendlichkeit übergroßer Räume und Säle schrill und markerschütternd widerhallte und wie ein ungeheuerlich langgezogenes, nicht enden wollendes Kreischen und Heulen anmutete. Das luziferische Gelärme, das aus den Kehlen von tausend randalierender Höllenteufeln und böser, radauseliger Dämone zu kommen schien, ging mir durch Mark und Bein und gellte mir schmerzhaft in meinen Ohren. Wie kann ich es nur beschreiben, welche Sprache vermag dies auszudrücken, wieviel Ekel, Grauen und Entsetzen mir diese verdammenswerte Kreatur einflößte - jene Kreatur, die niemand anders als meine angetraute Anja sein konnte.

"Erhebe dich von mir, du Ausgeburt der Hölle", stieß ich hervor und schleuderte der teufelhaften Bestie eine klobige Koboldsfigur, die bisher eine altmodische Vitrine geziert hatte, entgegen. Aber - o weh! Mein Wurfgeschoß durchschlug widerstandslos das dämonische Wesen und zerschellte lautkrachend auf dem harten Steinboden. Da war das Scheusal im Begriffe, mit seinen krallenartigen Knochenfingern mir an die Gurgel zu fahren. Schäumend und geifernd vor Wut, trachtete es mir nach meinem Leben.

In allerletzter Sekunde wurde ich mir der gefahrvollen und lebendsbedrohenden Situation, in der ich mich befand, richtig bewußt. Blitzschnell duckend, glückte es mir, an der gräulichen Spukerscheinung vorbeizuschlüpfen und in wilder, kopfloser Flucht davonzustürzen. Keuchend hetzte ich durch das umfangreiche Labyrinth stockfinsterer Gänge.

In der vom abnehmenden Mond mattbeschienenen Halle hielt ich erschöpft inne und spähte gespannt zur Standuhr, die im erbärmlichen Glimmer des graufahlen Erdtrabanten eine unbeschreiblich geisterhafte Wirkung ausstrahlte und in deren spiegelnden Glase ich trotz vorherrschender Düsternis in unübertrefflicher Deutlichkeit die entsetzenerregenden Umrisse der Spukgestalt abermals mir entgegengleiten sah.

Mit meiner bloßen Faust durchschlug ich das dicke Uhrenglas, riß mit den verletzten Händen das eiserne Perpendikel heraus und schlug, als ob ich in der Lage wäre, dem Teufelsgezücht einen tödlichen Hieb zu versetzen, mit allen mir noch zur Verfügung stehenden Kräften, wie von einem Wahn befallen, blindlings rückwärts. Doch niemand stand hinter. Ich befand mich mutterseelenallein im großen Salon meines Schlosses.

In einem Ausbruch besinnungslosen Jähzorns packte ich die verdammte Standuhr - in mir steckten urplötzlich übermenschliche Kräfte - und wuchtete sie lauthals fluchend durch die zerplitternden Fensterscheiben. Dabei stieß ich einen gellenden Entsetzensschrei aus, den das mehrfache Echo in den engen Tälern in das wütige Geheule blutrünstiger Wölfe verwandelte. Mit unvorstellbarem Grausen gewahrte ich, - und mir schien, als umfächele mich eine geistige Umnachtung - daß die Uhr, die soeben in unzähligen winzigen Teilchen drunten auf den zackigen Felsen hoffnungslos zerschmetterte, total verrostet gewesen sein mußte, denn Rost und Schmutz klebten zäh an meinen blutverschmierten Händen.

 

© Manfred Wirth

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