Horribel

(Erzählung von Manfred Wirth)

 

 

Man sagte es dem pensionierten Oberlehrer und abgetretenen Stadtrat Herrn Max Fleckel kürzlich unverblümt ins Gesicht, daß er ein notorischer Trinker und hoffnungslos verludert sei. Böse Zungen nennen ihn geradeheraus einen üblen, unverbesserlichen Säufer. Und wahrhaftig! Mit unerschütterlicher Regelmäßigkeit läuft der einstmals angesehene und hochverehrte Schullehrer jeden Abend ins benachbarte Dorf und besucht dort seine stets verrauchte Stammkneipe, um in Gesellschaft verrufener Trunkenbolde leichtfertigerweise etliche gekühlte Biere und zahlreiche klare Schnäpse hinunterzuspülen.

Bei einer derartigen Sauferei - Herr Fleckel spricht freilich von einem "geselligen Beisammensein" - sind meist zweierlei Personengruppen zugegen, die sich wesentlich voneinander unterscheiden. Übrigens, an allen Biertischen kann man heutzutage jene zwei grundverschiedenen Menschentypen antreffen.

Die einen betreten ungern ein Wirtshaus und nehmen nur widerwillig an ordinären Zechgelagen teil. Diese Personen suchen Veranstaltungen und Festlichkeiten primitiver Art vor allem deshalb auf, weil sie von andersgearteten Freunden und Bekannten, hauptsächlich aber von nichtsnutzigen Quartalssäufern bedrängt werden, doch mitzumachen. Manche bilden sich allerdings auch fest und steif ein, etwas Wichtiges zu versäumen, wenn sie zu Hause bleiben oder vernünftige Dinge unternehmen würden. Die Betreffenden trinken mäßig und täuschen Frohsinn und Beschwingtheit in den überwiegenden Fällen geschickt vor, wobei sie mühsam ein gelangweiltes Gähnen und ihre aufkommende Schläfrigkeit unterdrücken. Schließlich gehen sie dann enttäuscht, ihres anstrengenden Heuchelns überdrüssig, vom unsinnigen Geschwätz ihrer betrunkenen Mitzecher im höchsten Grad verärgert und über deren himmelschreiende Unverständigkeit aufgebracht, zumeist vorzeitig nach Hause, um im stillen Kämmerlein einen weiteren gänzlich verdorbenen Abend und die verpfuschte Freizeit zu beklagen.

Die andere Gruppe - zu ihr gehört zweifellos unsere unrühmliche Hauptperson, Herr Max Fleckel, Oberlehrer a. D., schüttet in sündhaften Mengen die alkoholischen Getränke in sich hinein, um bei der alsdann entstehenden Geistesverwirrung sich von ihrer Einbildungskraft allen Ernstes vorspiegeln zu lassen, daß sie frohgestimmt, sorgenfrei und wunschlos glücklich sei. Während des Tages ziehen diese Menschen finstere Leichenbittermienen und vergrämen ihre Umwelt durch ihr mürrisches, unfreundliches Wesen und durch ständig offenbarte Unzufriedenheit. Manchmal bringen sie es fertig, ihren Nächsten das Leben mit ihrer bloßen Anwesenheit zu vergällen. Abends und nachts dagegen glänzen die geröteten Speckgesichter und alberne Trivialitäten sprudeln nur so von den Lippen. Wenn jemand in ihrer Runde zweideutige Witze reißt oder schlüpfrige Frivolitäten losläßt, krümmen und biegen sich die tagsüber ungelenkigen Körper vor anhaltendem, kindischem Lachen. Auf ihren bedauerlich hohen Trunkenheitsgrad sind sie obendrein ungemein stolz; nicht selten prahlen sie anderentags lauthals mit ihren vorabendlichen Wirtshauserlebnissen.

Es ist im übrigen sehr fraglich, ob die zweitgenannte Menschengruppe neben dem flotten Leeren von Bierkrügen und Schnapsgläsern noch andere erwähnenswerte Interessen hegt, ausgenommen das Erzählen unglaubwürdiger Kriegsgeschehnisse, die vornehmlich bei fortschreitender Alkoholwirkung und der unweigerlich damit verbundenen geistigen Umnebelung zu unmöglichen, äußerst lächerlichen Münchhausiaden auswachsen. Abgesehen von ihrem ausgiebigen Pokulieren und der eintönigen Wirtshaushockerei zeigen betagte Gewohnheitstrinker allerdings eine besorgniserregende Vorliebe für Todesanzeigen; allmorgendlich studieren sie eifrig die diesbezüglichen Zeitungsspalten.

Jeder Versuch, derart veranlagte Menschen von ihrem verhängnisvollen Tun abzuhalten und sie vom unseligen Laster der Trunksucht zu befreien, dürfte zwecklos sein. Man kann sich eigentlich gar nicht recht vorstellen, welcher Freizeitbeschäftigung ein unverwüstlicher Dauerzecher wie unser Herr Fleckel nachginge, wenn es keine Kneipen mehr gäbe und man ihm sein Lieblingsgetränk, das gewöhnliche Bier, abnehmen würde.

Es ist müßig, hier aufzuführen, wie oft der Trunksüchtige von seinem Hausarzt mit ernster, besorgter Miene vor den unausbleiblichen und schwerwiegenden Folgen des andauernden Alkoholmißbrauches gewarnt worden ist. Ungeachtet seines Greisenalters und seiner zunehmenden Bresthaftigkeit hatte Max Fleckel jedoch jedesmal die wohlmeinenden Ratschläge und fortwährenden Ermahnungen des Heilkundigen bedenkenlos in den Wind geschlagen. Letztlich hatte auch der Arzt die Nutzlosigkeit seiner Bemühungen eingesehen; kopfschüttelnd ließ er seinen Patienten ins Verderben rennen.

Mehrere Unfälle hatte der unbelehrbare Zecher aufgrund verkehrswidrigen Verhaltens erlitten. Oftmals lag er sogar stockbetrunken mitten auf der Fahrbahn. Wieviele schlimme, unheilbare Verletzungen hatte er sich hierbei zugezogen! Doch selbst alle Gebrechen, die aus seinem Lebensabend ein schmerzensreiches Siechtum machten, änderten seine Gesinnung keineswegs. Auch die zurückgebliebenen tiefen Narben, die sein verschwollenes Säufergesicht kreuz und quer durchziehen und seinen leidenden Körper zeitlebens verunstalten werden, ermahnten ihn nicht zur Vernunft.

Dann aber traf den versumpfenden Alkoholiker ein unvorhergesehenes, unbegreifliches Schrecknis, das ihn tatsächlich fast soweit brachte, mit dem allabendlichen, ausdauernden Bechern aufzuhören. Beinahe hätte er sich zu dem löblichen Entschluß durchgerungen, in den letzten lagen seines Daseins einen makellosen und alkoholfreien Lebenswandel zu führen.

Bei einer samstäglichen Zusammenkunft mit seinen zweifelhaften Kumpanen, die erwartungsgemäß in ein wüstes, hemmungsloses Besäufnis ausartete, war es wieder einmal bedenklich spät geworden. Der Wirt mußte die unermüdlichen Zechbrüder fast hinauswerfen. Ihr irres Gejohle und das unausgesetzte Gewieher erboste ihn in höchstem Maße. Zudem war die Polizeistunde längst überschritten, und die feucht-fröhliche Stammtischrunde machte trotz seines hartnäckigen Drängens nicht die geringsten Anstalten, sich von den Plätzen zu erheben und aufzubrechen. Doch am Ende blieb den durstigen Seelen nichts anderes übrig, als von ihren Sitzen aufzustehen, was ihnen gar nicht leichtfiel, und schweren Herzens heimzugehen. Die Stammtischbrüder des Herrn Fleckel, die ausnahmslos im Dorf wohnten, verabschiedeten sich mit lallender, unartikulierter Säuferstimme. Ihr mißtönendes, weittragendes Gegröle hallte noch minutenlang durch die schlafende, unbeleuchtete Ortschaft und dröhnte ihm mächtig in den Ohren, während er, allein davontorkelnd, alsbald die letzten Dorfhäuser hinter sich ließ. Seine Heimatstadt lag höchstens einen Kilometer von der ländlichen Siedlung entfernt. Doch das Verbindungssträßchen besaß damals noch keine neuzeitliche Asphaltdecke. Es war holperig, mancherorts ziemlich unwegsam und schlängelte sich in vielen Windungen durch wogende Kornfelder dahin. In jener sternklaren Augustnacht schien die Straße überhaupt nicht zu enden. Der Nachtwanderer war zum Umsinken müde und vom langen Laufen ganz erschöpft. Noch nie hatte er sich so matt und sterbenselend gefühlt!

Als er am dichtgewachsenen Fichtengehölz anlangte, das ungefähr auf halber Wegstrecke zu seiner Linken lag, setzte er sich auf einem moderigen Baumstumpf nieder, um einige Minuten auszuruhen. Über der nächtigen, fernliegenden Waldung kam langsam die Mondsichel heraufgekrochen. Trüb, blutrot und beängstigend hing sie über den hochragenden, windbewegten Baumwipfeln und sandte einen blassen, fast gespenstischen Lichtschein, der keine Schatten warf, jedoch der einsamen Waldlandschaft ein schauriges Aussehen verlieh.

Mit einem Male wurde dem Alten unbehaglich zumute. Ihm war angst. Bei jedem leisen Knacken, das mancher Windstoß im nahen Gebüsch verursachte, erschauderte er. Als irgendein unbekanntes Tier in der unheimlichen Dunkelheit ein gefahrdrohendes Knurren von sich gab, meinte er, vor Schreck einem Herzschlag erliegen zu müssen. Die Müdigkeit, die seinen siechen Körper vollends übermannt hatte, mußte mehr als seltsam genannt werden. Er war wie gelähmt und vermochte kein Glied zu rühren. Ein unbestimmtes Grauen überkam ihn, als auf einmal aus weiter Ferne ein fremdartiges, noch nie gehörtes Brummen und Summen an sein Ohr drang. Seine Blicke schweiften ringsum über das nachtverhüllte Land, ohne Unterlaß die bläuliche Düsternis durchbohrend. Nachdem er einige Zeit angespannt nach allen Seiten gehorcht und forschend in alle Himmelsrichtungen geäugt hatte, stand für ihn fest, daß der feine, rätselhafte Ton aus der endlosen Weite des Weltraumes herkommen mußte. Dann war ihm, als ob ein unnatürlicher, blaßblauer Lichtschweif, der seinen Ursprung anscheinend in unermeßlicher Höhe hatte, Seine nähere Umgebung für einen Augenblick schwach erhellen würde. Die spukhafte Himmelsstrahlung währte jedoch dermaßen kurz, daß sie möglicherweise in Wirklichkeit überhaupt nicht vorhanden gewesen war und sie nur als Halluzination eines Betrunkenen hatte angesehen werden müssen.

Max Fleckel fand auch keine Gelegenheit, länger über die Entstehungsursache jener obskuren Lichterscheinung nachzudenken. Ihm wurde unvermittelt schwindelig, und er fühlte, wie seine Sinne schwanden. Zuletzt drehte sich ihm alles vor den Augen, und zwar mit derart teuflischer Schnelligkeit, daß sämtliche Bäume und Sträucher in weitem Umkreis wie gespensterhafte Schemen an ihm vorbeizuhuschen schienen.

Max vermeinte jedoch, eingedöst zu sein und das Ganze nur geträumt zu haben, denn er befand sich plötzlich hellwach. Außer den Beschwernissen des Alters und seiner totalen Bezechtheit plagten ihn keine nennenswerten Unpäßlichkeiten. Zwar war er verständlicherweise sehr schläfrig; doch Mattigkeit und Schwäche, die ihn jählings überfallen hatten, waren unverhofft von ihm gewichen. Er hockte fröstelnd auf einem Grenzstein, unweit am Rande seiner Heimatstadt. Auf seine Armbanduhr blickend, stellte er mit maßlosem Erstaunen fest, daß es erst drei Uhr morgens war. Normalerweise benötigte er für den Weg von der Dorfkneipe bis zum Stadtrand in derart trunkenem Zustand mindestens eine Viertelstunde. Darum wunderte er sich jetzt zutiefst. Er wußte zweifelsfrei, daß er sich vor genau fünf Minuten von seinen Zechkumpanen getrennt und anschließend unverzüglich den Heimweg angetreten hatte. Ihm wollte beim besten Willen nicht einleuchten, daß er so außerordentlich schnell gelaufen sein konnte, zumal er doch eine vorübergehende Erschöpfung und Kraftlosigkeit verspürt hatte und er dieserhalb zu einer kurzen Rast gezwungen worden war. Er verlor sich über diesen unwichtigen Umstand in fruchtlosen Grübeleien, um nach geraumer Weile zu dem unbefriedigenden Schluß zu gelangen, daß seine Uhr defekt und für einige Minuten stehengeblieben sein mußte.

Ein kühler, böiger Wind zog von Osten auf, der einen krassen Temperaturumschwung mit sich brachte. Der Dahinschreitende schauerte. Seine Knie schlotterten. Er beeilte sich, seine Wohnung zu erreichen, schien jedoch nicht vorwärts zu kommen. Bald fror der Ärmste Stein und Bein, weil der Erdboden eisige Kälte ausstrahlte, wie sie für eine Spätsommernacht ungewöhnlich war. Unflätig schimpfte er über den frühzeitig eingebrochenen Frost.

Der Übernächtigte fand die Vorstadtstraßen menschenleer. Eine beklemmende Stille lag über den lichtlosen Häusern, die nur dann und wann durch jaulende Windböen gestört wurde. Obwohl sich Max entsann, daß er zu nachtschlafender Zeit in den Außenbezirken kaum jemanden angetroffen hatte und die hier herrschende Ruhe nur ab und zu durch ein vorbeifahrendes Auto unterbrochen worden war, dünkte ihn an jenem frühen Sonntagmorgen die momentane Leere und Lautlosigkeit befremdend, ja, höchst unwirklich. Die schmucken Fachwerkhäuser mit den spitzen Giebeldächern, die ihm hätten wohlvertraut sein müssen, erschienen ihm irgendwie verändert. Überdies kam es ihm vor, als ob die modernen Bogenlampen beiderseits der Straße nur einen dürftigen Schein warfen. Die armseligen Funzellichter vermochten das schrankenlose Dunkel nicht zu durchdringen und verbreiteten mehr unheildrohende Schatten und schaudervolle Düsterheit. Die Fenster der Häuser boten einen trostlosen, nahezu furchterregenden Anblick. Sie sahen pechschwarz aus und glichen gähnenden, unergründlichen Löchern, toten Augenhöhlen, die fast grausig anmuteten.

Mit angstbeschleunigten Schritten war der bejahrte Wirtshausheimkehrer endlich an seinem Ziel angekommen. Beim Öffnen der Haustüre widerfuhr ihm allerdings ein unerklärbares Mißgeschick.

Max hatte bereits unter lautstarkem, gottlosem Fluchen mehrmals vergeblich versucht, die Türe aufzusperren und Einlaß zu finden. Trotz größter Anstrengungen wollte der Schlüssel einfach nicht ins Schlüsselloch passen. Max mutmaßte, daß irgendwelche übermütige Witzbolde oder angeheiterte Halbstarke das Schlüsselloch mit Papierschnipseln, Kaugummi oder dergleichen verstopft hatten. Er wußte keinen anderen Ausweg, als sein Vorhaben etwas kraftvoller zu wiederholen und den Schlüssel gewaltsam ins Schlüsselloch einzuführen. Da geschah das höchst Unwahrscheinliche. Ehe er sich recht versah, flogen Türklinke und Schloßfüllung knallend nach innen. Hatte er wirklich so fest dagegengedrückt, daß ihm ein derart ärgerliches Malheur passieren mußte? Als er, von dem unglücklichen Vorfall verwirrt und ganz benommen, sich leicht gegen den hölzernen Türrahmen lehnte, fiel unbegreiflicherweise der ganze Türstock mitsamt der halben Fläche der angrenzenden Hausflurwand lautkrachend nach innen. Der bedauernswerte Greis wurde mitgerissen und stürzte schmerzhaft auf die harten Steinplatten des Hausflures hin. Es grenzte an ein Wunder, daß er bei diesem schweren Fall nicht das Genick brach und seinen Geist aushauchte.

Der Gestürzte zermarterte sich den Kopf, wie sich dies alles zutragen konnte. Er fand keine andere Erklärung, als daß er in seiner offenkundigen Trunkenheit und Tolpatschigkeit zu roh und ungestüm vorgegangen war. Er nahm sich vor, künftig nicht mehr soviel Gewalt anzuwenden und alle Gegenstände, die ihm in der restlichen Nacht noch in die Finger kommen sollten, sanft anzufassen und behutsam mit ihnen umzugehen, um in seinem sinnlosen Totalrausch kein neues Unheil heraufzubeschwören und nicht noch mehr zu zerstören. Gottlob war der Hausherr für einige Wochen verreist. Er hätte sicherlich seinem Zorn die Zügel schießen lassen und womöglich die Polizei verständigt oder gar eine fristlose Kündigung ausgesprochen. So behielt der ehemalige Oberlehrer die Nerven. Ohne sich länger um die zertrümmerte Eingangstüre und die Verwüstung im Hausflur zu kümmern, fiel er todmüde ins Bett und sank in einen ruhigen, traumlosen Schlaf.

Max erwachte, als die wohltuenden Strahlen der goldenen Morgensonne ihn mitten auf das Gesicht schienen. Den Langschläfer nahm wunder, daß es nachtsüber so bitterkalt war und er jämmerlich gefroren hatte, wohingegen ihn jetzt eine hochsommerliche Wärme überflutete. Es versprach ein herrlicher Tag zu werden. "Welch ein gesegneter Sonntagmorgen", rief er aus. Frohgelaunt und beschwingt eilte er an sein Schlafzimmerfenster, um die Flügel weit aufzureißen. Er gedachte, das großartige Panorama der nahegelegenen Bergkette zu bewundern und die reine Morgenluft zu genießen. Zu seiner Enttäuschung bemerkte er jedoch, daß draußen ein penetranter, ekelhafter Geruch vorherrschte und es stellenweise merkwürdig diesig war. Obwohl strahlendes, ungetrübtes Blau das ganze Firmament erfüllte, war das Land in Erdbodennähe von milchigen, undurchdringlichen Dunstschwaden eingehüllt, welche die Sicht hemmten und einen Ausblick auf die bewaldeten Gebirge restlos verwehrten.

Max seufzte gramvoll. Seine freudige Morgenstimmung war umgeschlagen und hatte sich unversehens in bittere Verdrossenheit gewandelt. Zudem nahm mehr und mehr ein lästiges Unwohlsein von ihm Besitz, das, verbunden mit rasenden Kopfschmerzen und argen Magenbeschwerden, ihm ins Bewußtsein rücken ließ, daß er am Vorabend mehr als üblich dem Alkohol zugesprochen und sich von neuem gesundheitlich geschädigt hatte. Schon wollte er sich wieder zu Bette begeben, als ihn eine würgende Übelkeit befiel. Die Toilette nicht rechtzeitig erreichend, erbrach er sich zu allem Unglück inmitten des Korridors. Während er ein ekliges Gemisch von Schleim und Bier ausspie, durchzuckte ihn wie ein Blitzstrahl die unliebsame Erinnerung an die erlebnisreichen und schreckensvollen Nachtstunden. Sein nächster Gang führte ihn deshalb sofort zur Haustüre, um den ungeheueren Schaden, den er wähnte, nächtlicherweile angerichtet zu haben, bei hellem Tageslicht zu besehen. Zu seiner grenzenlosen Verwunderung fand er den Eingang jedoch völlig unversehrt. So erlangte Max die Gewißheit, daß er sich in seinem unverantwortlichen Rausch haarsträubenden Phantastereien hingegeben hatte. Er dachte bei sich, daß es vielleicht doch besser sei, einige Wochen auf den geliebten Gerstensaft zu verzichten, um nicht letzten Endes immerfort unter diesen erschreckenden Wahnvorstellungen zu leiden.

Da ihn hungerte und sein Magen bereits vernehmbar knurrte, suchte er in der Speisekammer nach etwas Eßbarem. Er trug sich mit der Absicht, die Brötchen, welche vom Vortage übriggeblieben waren, in die Backröhre zu legen und sie aufzubacken, hielt aber sogleich bestürzt inne, als er merkte, daß das geflochtene Körbchen, in dem sie lagen, schwer wie Blei war. Erschrocken ließ er das gewichtige Behältnis zu Boden fallen. Es gab ein donnerndes und zugleich blechern klingendes Gepolter, das sich so anhörte, als ob ein Dutzend Pflastersteine aus beträchtlicher Höhe auf eine große Metallplatte herabgestürzt wären. Der dumpfe, echoende Lärm ließ das ganze Haus in allen Fugen zittern.

Fassungslos bückte sich Max nach den geheimnisvollen Semmeln, um diese eingehendst zu untersuchen. Seine mehrmaligen Versuche, eines der Brötchen zu brechen, scheiterten schmählich. Es war steinhart. Wütend schmiß er die ungenießbare Semmel in hohem Bogen aus dem Fenster. Mit unbeschreiblichem Entsetzen gewahrte er, daß sie nicht auf der Terrasse - wie von einem leblosen Gegenstand zu erwarten - liegenblieb. Sie hüpfte durch den weitläufigen Garten und setzte mit einem ungeahnt riesigen Sprung über den mannshohen Buschzaun, der das Grundstück umgrenzte, um sich dann in hurtigen, grotesken Sprüngen die Hauptverkehrsstraße hinaufzubewegen, dem Blickfeld des konsterniert dreinschauenden Mannes entschwindend.

Plötzlich schoß ihm der schreckliche Gedanke durch den Kopf, daß eine Bewußtseinstrübung oder Geisteskrankheit sich seiner bemächtigt haben könnte. Niederdrückende Gefühle auswegloser Trostlosigkeit und überwallender Verzagtheit beschlichen ihn. Die unsägliche Furcht vor dem Wahnsinnigwerden beklemmte sein Herz. Bedrückt setzte er sich In seinen altmodischen Schaukelstuhl und versank in tiefes, ungereimtes Nachdenken ...

Vereinzelte Stimmen wurden vor dem Fenster laut, die den Grübler aus seinem stumpfsinnigen Brüten hochschreckten. Durch die Vorhangstores nach draußen spähend, erblickte er eine erstaunliche Anzahl uralter, verhutzelter Männchen und Weibchen, die sich offensichtlich auf dem sonntäglichen Kirchgang befanden. Schwerfällig humpelten die gebrechlichen, gramgebeugten Gestalten die Hauptstraße hinunter. Nur wollte es dem aufmerksamen Betrachter erscheinen, daß ihr ohnehin langsamer Gang diesmal extrem schleppend und verhaltend war. Im scharfen Gegensatz zu den älteren Kirchgängern, die sich nur im Schneckentempo vorwärts bewegten, kam eine Schar jüngerer Leute mit überraschend elastischen und beflügelten Schritten daher. Max stand vollkommen verdutzt und wie vom Donner gerührt am Fenster; er traute seinen Augen nicht mehr. Eine etwa dreißigjährige Frau, die dem Verblüfften wegen ihrer eigenartig hopsenden Fortbewegungsart auffiel und deren plumpe Körperformen und übertrieben knallfarbige Kleidung man ohne weiteres als lachhaft hätte bezeichnen können, schlenkerte während des Gehens ihre unansehnlich fetten, viel zu lang geratenen Arme derart heftig nach beiden Seiten, daß man annehmen mußte, sie wollte auf offener Straße einen wilden Twisttanz aufführen.

Max entsetzte sich von Minute zu Minute mehr. Ihn bewegte die Frage, ob einem die Sinnesorgane derart fürchterliche Streiche spielen könnten. Es verblieb ihm jedoch nicht viel Zeit, über die Gangart seiner Mitbürger und über seine vermeintliche Geistesgestörtheit länger nachzugrübeln. Kaum waren die letzten Leute hinter der nächsten Straßenkrümmung verschwunden, kam seine Semmel wieder auf dem Gehsteig entlanggerollt. Sie flog, als ob sie von unsichtbarer Geisterhand hereingeworfen worden wäre, mit voller, unerhörter Wucht zischend durch das sperrangelweit geöffnete Fenster, haarscharf über seinen Kopf hinweg, um wieder im Brotkorb zu landen. Max rieb sich die Augen, zwickte sich, denn noch immer glaubte er zu träumen. Nein, es konnte kein Zweifel bestehen: er war völlig wach.

Zu seiner Verblüffung ließ sich die Semmel nunmehr ohne jegliche Schwierigkeiten auseinanderbrechen. Sämtliche Brötchen konnte Max ungehindert zerteilen. Sie besaßen jetzt auch ein merklich leichteres Gewicht. Nichts Gutes ahnend und mit der nötigen Vorsicht, biß Max in das Weißbrot. Es war nicht zu genießen. Sein Inneres bestand aus einer wabbeligen, übelriechenden Masse. Angewidert spuckte er die zähen, schleimigen Brocken aus. Es hätte nicht viel gefehlt und er hätte sich vor Ekel abermals übergeben.

Da ihn unsagbarer Durst quälte und seine Kehle wie ausgedörrt war, wollte er eine Flasche Bier leeren, die, wie er sich erinnerte, seit einigen Tagen im Kühlschrank aufbewahrt sein mußte. Doch ein neues, unvermutetes Hindernis stellte sich ihm entgegen. Es war ihm selbst unter Aufbietung aller Kräfte unmöglich, die Kühlschranktüre aufzumachen. Daraufhin ging er daran, probeweise mehrere Schranktüren und Schubkästen zu öffnen. Mit Schrecken wurde er jedoch gewahr, daß alles so unverrückbar fest war, als ob sämtliche Möbel aus einem einzigen massiven Stück bestehen würden.

Nun war Max felsenfest davon überzeugt, daß es sich bei allem, was er sah, ausschließlich um Trugwahrnehmungen handelte. Er fürchtete, es wären unverkennbare Vorläufer eines gräßlichen Wahnsinnsanfalles. Von innerer Unruhe erfaßt, lief er auf die Straße. Er trug sich mit dem Gedanken, bei einem ausgedehnten Morgenspaziergang seine fatale Situation nochmals gründlich zu überdenken und neue Eindrücke zu sammeln.

Die Straßen waren wie ausgestorben. Auch in der Stadtmitte war seltsamerweise weit und breit keine Menschenseele zu entdecken. Als Max am Gotteshaus vorbeikam, stutzte er. Die hohle Stimme des Pfarrers schallte weithin über den leeren Marktplatz. Es erweckte den Anschein, als ob man einen leistungsfähigen Echoverstärker mit mehreren, in den umliegenden Bezirken verteilten Lautsprechern in Betrieb genommen hätte. Wenngleich die Worte des Geistlichen überlaut zu vernehmen waren, vermochte Max keinen einzigen klaren, zusammenhängenden Satz zu verstehen. Die gesamte Predigt ähnelte einem pausenlosen, hundeartigen Geheul.

Max wollte soeben auf leisen Sohlen die Kirche betreten, um zu ergründen, wie diese überwältigende Lautstärke möglich war und es dennoch zu dieser Tonverzerrung und Wortunverständlichkeit kommen konnte. Indes, im nämlichen Moment war der Gottesdienst abrupt beendet. Das wuchtige, zweiflügelige Eingangsportal wurde schlagartig aufgestoßen. Hunderte von Menschen stürmten mit einer solchen Geschwindigkeit, als ob sie von einer Horde mordgieriger Unholde flüchten würden oder sich in kopfloser Panikstimmung befänden, nach draußen und stoben in allen Richtungen auseinander. Fast wäre Max von dem unerwarteten Menschenstrom, der sich rücksichtslos aus dem Kirchentor wälzte, umgerannt, erdrückt und zertrampelt worden. Nur mit Müh und Not gelang es ihm, dem mörderischen Gedränge zu entrinnen und in einer Mauernische Schutz zu finden. Max konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß der Leibhaftige in die Leute gefahren sein müsse, vor allem, weil ihre Gesichter zu Masken des Grauens erstarrt schienen. Gedankenvoll beobachtete er von seinem Versteck aus einen Kirchenbesucher, der rüstig und mit sonderbar weitausholenden Schritten auf seinen museumsreifen Wagen zueilte und umgehend losfuhr. Dabei konnte er deutlich wahrnehmen, daß der Motor ansprang und sich das Vehikel schon in Bewegung setzte, bevor der Fahrer irgendeine Schaltung vornahm. Verstört blickte Max dem ratternden, sich entfernenden Auto nach. Inzwischen hatte sich die Menschenmenge in den winkeligen Seitenstraßen verstreut; der Kirchenvorplatz war wie leergefegt, und er fand sich wieder mutterseelenallein.

Wie vom Blitz getroffen, stand Max da. Erst als er sich seiner plötzlichen Verlassenheit bewußt wurde und er Platzangst bekam, setzte er seinen Weg fort. Ziellos irrte er durch das Gewirr monotoner Straßen und Gassen. Die Eintönigkeit des grauen Häusermeeres ließ in ihm eine trübselige Stimmung aufkommen. Am Bahnhofskiosk kaufte er sich aus reiner Langeweile die Morgenzeitung. Die Verkäuferin, eine unsympathische, fettleibige Person mit aufgedunsenem, todbleichem Vollmondgesicht reichte ihm wortlos das gewünschte Boulevardblatt, wobei sie ohne ersichtlichen Grund komische Grimassen zog. Als Max ein paar Schritte gegangen war und er einen Blick auf die Titelseite des Groschenblattes warf, mußte er feststellen, daß die Druckzeilen nur schlecht und an manchen Stellen überhaupt nicht zu lesen waren. Lediglich die fettgedruckten Überschriften waren einwandfrei zu erkennen. Die Händlerin hatte ihm überdies die Ausgabe vom vergangenen Sonntag ausgehändigt. Max wünschte die Zeitungsverkäuferin zum Teufel. Seinen Ärger konnte er kaum verbergen. Zornig zerriß er das nutzlose Blatt und warf die Fetzen in einen Papierkorb.

In einer engen Nebengasse begegneten dem verlassenen Spaziergänger drei hagere, hochgewachsene Männer. Grußlos schritten sie an ihm vorüber. Doch starrten sie ihn so entgeistert an, daß er annahm, er müsse abstoßend aussehen. Hatte ihn ein garstiger Ausschlag entstellt? War aus seinem ohnedies häßlichen, roten Narbengesicht eine abscheuliche Teufelsfratze geworden? Schon hegte er die bange Vermutung, daß seine alten Verwundungen wieder aufgebrochen wären und sein Anzug über und über mit Blut besudelt sei. Sorgenvoll betrachtete er sich in seinem Taschenspiegel. Seine Befürchtungen erwiesen sich als unbestätigt. Er konnte nicht herausbekommen, warum ihn alle derart unverhohlen angafften.

Es ging schon gegen Mittag, als Max ausgelaugt nach Hause wankte. Kurz vor seiner Wohnung fiel ihm ein, daß er den ganzen Vormittag noch keinen Bissen zu sich genommen hatte. Er betrat deshalb ein kleines, elegantes Restaurant, in dem er schon des öfteren mittags gespeist hatte. Max sah jedoch zu seinem Befremden, daß die Innenausstattung des Lokales heruntergekommen und ungewohnt ärmlich und gelumpig wirkte. Ebenso fiel die nachlässige, um nicht zu sagen: schlampige Kleidung der Bedienungen unangenehm ins Auge. Auch das Benehmen des hinzutretenden Oberkellners war anders als sonst. Er begrüßte den Eintretenden nicht, obgleich er früher jederzeit ausgesprochen freundlich und höflich war. Mit glasigen, weitaufgerissenen Augen glotzte er den neuangekommenen Gast begriffstutzig an, um sich dann nach einiger Zeit, ohne ihn nach seinem Begehren befragt zu haben, wieder zu entfernen.

Sich im Lokal umschauend, konnte Max die schauderhafte Vorstellung nicht abwerfen, daß alle Leute, die im Gastraume saßen, spöttisch lächelten und ihr Augenmerk unverwandt auf ihn richteten. Max winkte einen Kellner zu sich her, der gerade in seiner Nähe ungeschickt mit einem übergroßen Tablett hantierte und dessen ungepflegtes Haar in langen, wirren Strähnen über seine Schultern hing. Er erhielt von diesem schweigend die Speisekarte in die Hand gedrückt. Wie Max bereits insgeheim befürchtet hatte, vermochte er kein einziges Wort zu entziffern, obwohl er sicher war, daß die Unlesbarkeit der Buchstaben nicht auf einer Verschlechterung seiner Sehkraft beruhte.

Da Max sich nicht blamieren wollte, bat er den Bediener: "Geben Sie mir das, was die anderen Herrschaften hier auch essen." Er hatte nämlich gesehen, daß alle das gleiche Mahl vor sich stehen hatten, konnte aber nicht ausfindig machen, um welches Gericht es sich handelte.

Kurze Zeit nach seinem ausgesprochenen Wunsch kam der Ober mit dem Essen. Er stellte ein riesenhaftes Tablett auf den Tisch, das außer einigen Haarsträhnen des Kellners eine rotschimmernde, unordentlich zubereitete und völlig undefinierbare Speise enthielt. Max war soeben im Begriffe, den fettigen Brocken, den er für Fleisch hielt, versuchsweise zu zerschneiden, als er spürte, daß das Stück zu zappeln anfing. Ihm entfuhr ein lauter Aufschrei. Während seines kurzen Schreckensausrufes nahm er wahr, daß eine unglaubliche Veränderung in der Gastwirtschaft vorgegangen war. Die Decke schien urplötzlich erheblich höhergerückt zu sein, die Fensternischen dehnten sich merkbar in die Länge. Doch wahrscheinlich erlag er nur einer erneuten Sinnestäuschung. Denn kaum war der letzte Hall seines Schreies verklungen, nahm die Räumlichkeit wieder die normalen Maße an. Max war jedoch sehr verwundert, daß keiner der übrigen Gäste von dem Zwischenfall Notiz genommen hatte. Nicht einmal der Kellner erkundigte sich nach der Ursache seines Erschreckens. Die Leute gafften zwar unablässig zu ihm her, doch hatten sie dies ja schon seit seiner Ankunft getan.

Belustigt schaute Max einigen Gästen zu, die während des Essens unaufhörlich die allermöglichsten Fratzen schnitten. Dabei bemerkte er, daß niemand etwas von den aufgetragenen Mahlzeiten verzehrte. Allesamt führten Gabel oder Löffel leer zum Munde. Der intensive Beobachter hatte auch bald herausgefunden, daß das fleischähnliche Gebilde auf seinem Teller nur dann mehr oder weniger vibrierte, wenn er ihm mit dem Messer zu nahe rückte.

Sein Hunger wurde indessen immer größer, sein Durst immer quälender. Er wollte gerade ein Glas Bier bestellen, als er durch eine nervöse, fahrige Armbewegung den dreibeinigen Tisch umwarf. Zu seinem unverhüllten Entsetzen sah er, wie das Stück Fleisch auf dem weichen Teppichboden davonkroch, eine schmierige, glitzernde Spur hinter sich lassend. Die Kellner befaßten sich jedoch keineswegs mit dem ungeheuerlichen Vorkommnis. Zwei von ihnen lehnten teilnahmslos, als ob sie die ganze Sache nichts angehe, mit unbewegtem, maskenhaften Gesichtsausdruck hinter dem Tresen.

Max wußte in seiner absoluten Ratlosigkeit nicht, was er tun sollte. Ein fürchterlicher Gedanke durchfuhr sein Hirn, den er nicht zu verscheuchen vermochte und der ihn zusammenzucken ließ. Vielleicht war nicht er, sondern die gesamte Einwohnerschaft dieser Stadt auf irgendeine unfaßbare Art und Weise um den Verstand gebracht worden? Max kam auf einen bemerkenswerten Einfall. Er beabsichtigte, sich vor aller Augen unverschämt frech und ungezügelt rüpelhaft aufzuführen, um aus der anschließenden Verhaltensweise der nimmermüden Fratzenschneider weitere Schlüsse zu ziehen und somit zu erforschen, wie es mit ihrer Geistesverfassung bestellt sei. Hierbei würde sich endgültig herausstellen, ob in der Tat die Nacht des Wahnsinns über allen Stadtbewohnern hereingebrochen war oder ob allein er von diesem Leiden geplagt werde und sein umnachteter Geist ihm jene schauderhaften Phantasiebilder vorschaukelte.

All seinen Mut zusammennehmend, stand er auf. Seinen Hals weit vorstreckend, krähte er wie ein übergeschnappter Gockelhahn. Mit heiserer Stimme kikerikiend, trabte er auf einen der nächsten Ecktische zu, an dem erst vor kurzem zwei bildhübsche Mädchen und ein junger, stattlicher Mann Platz genommen hatten. Trotz seines überlauten Gekrähes fand er keine Beachtung. Mit einem derben Fußtritt stieß er derart kräftig gegen die Tischkante, daß das ganze Gestell auseinanderbarst. Die Tischplatte samt den vielzähligen Tellern, Tassen und Gläsern fiel mit furchtbarem Krach herab und wurde durch den Aufprall total zerschmettert. Die drei Leute blieben jedoch sonderbarerweise ungerührt auf ihren Stühlen sitzen, als ob nicht das geringste geschehen sei. Sie fuchtelten unentwegt mit ihren Bestecken in der Luft umher, während ihr Mittagessen unaufhaltsam auf dem Teppichboden dahinglitt. Die Fleischstücke liefen zum Teil an den getäfelten Wänden hinauf. Sie lösten binnen kurzer Zeit die Holzverkleidung los und durchlöcherten zusehends Putz und Mauerwerk.

Da verwarf Max seinen Plan, den Geisteszustand seiner Mitmenschen zu überprüfen. Er war zur Einsicht gekommen, daß seine Missetaten töricht seien und keinesfalls den erhofften Erfolg bringen würden. Denn nicht nur die ihn umgebenden Lebewesen, sondern auch unbelebte Dinge, wie zum Beispiel eben das gebratene Fleisch oder vorhin sein Frühstücksbrötchen, führten wunderliche, selbständige Bewegungen aus. Es konnte folgedessen mit deren Beschaffenheit, ja, selbst mit der toten Materie etwas nicht stimmen. Max gelangte zu der Erkenntnis, daß bei oberflächlichen Beobachtungen aller Gegenstände nichts Sonderliches auffiel; im großen und ganzen blieb ihr Äußeres unverändert. Erst wenn man die Objekte prüfend betastete, beziehungsweise sie auseinandernahm (das Zerschneiden des Fleisches, das Zerteilen der Semmel) wurde man mit ihrer Unnatürlichkeit konfrontiert, und unerklärliche, unvorhergesehene Geschehnisse traten ein. Ebenso verhielt es sich, wenn man auf Kleinigkeiten schaute oder nähere Einzelheiten beachtete (ein Leseversuch in der Zeitung). Insbesondere bei der Ausführung nicht alltäglicher Handlungen (das Umwerfen des Eßtisches) nahmen die entsetzlichen Ereignisse überhand und allgemeine Verwirrung machte sich breit. Der zimmerhohe, mehrstämmige Gummibaum beispielsweise, der an der Fensterseite des Gastraumes in die Höhe rankte, sah fraglos wie jeder andere aus. Als Max jedoch seine Blätter befühlte und sich daraufhin seine Hände giftgrün färbten, vermochte er sich nicht der Tatsache zu verschließen, daß es auch in der Pflanzenwelt nicht mehr mit rechten Dingen zugehen konnte.

Obwohl Max die Überzeugung gewonnen hatten, daß seine Unsinnstaten den Höllenspuk begünstigten und seine alptraumhafte Lage nur noch verschlimmerten, fuhr er unbeirrt fort, sich wie ein Verrückter zu gebärden. Er trat forsch an die Theke und schüttete den beiden greisen, phlegmatischen Kellnern, die in starrer, statuenhafter Unbewegtheit dahinterstanden, mit dem Ausruf: "Prosit! Ihr Ölgötzen!" kurzerhand ein prallgefülltes Bierglas über ihre glänzenden Glatzen. Die Begossenen regten sich nicht; geistesabwesend stierten sie zur Decke empor. Auch sprachen sie kein einziges Wort. Doch schienen die Kahlköpfigen in einem fort dämonisch zu grinsen.

Die ganze Angelegenheit wurde für Max unerträglich. Seine Nerven versagten ihm. In einem Anfall jäh aufflammender, zügelloser Wut raste er, tierische Laute ausstoßend, wie ein Wahnsinniger von Tisch zu Tisch, zog überall die karierten Damasttücher mitsamt dem reichhaltigen Gedeck herunter, worauf dieses lautscheppernd auf den Fußboden purzelte. Es entstand ein Wirrsal sondergleichen. Dann war der Tobende gezwungen, sein schonungsloses Zerstörungswerk abzubrechen und sich Hals über Kopf zur Flucht zu entschließen, weil der Inhalt des heruntergefallenen und in tausend Stücke zersplitterten Porzellangeschirrs mit Leben begabt zu sein schien, zuckend und hüpfend sich über die verwüstete Stätte ausbreitete und ihm gefährlich dicht auf den Fersen war. Schreiend und so rasch ihn seine krummen Beine trugen, rannte der Bedrängte aus dem Lokal, die Türe hinter sich zuschlagend.

Sein schrilles, angstvolles Geschrei bewirkte wiederum eine augenfällige Verwandlung des Stadtbildes. Der Kirchturm schien von einer Sekunde zur anderen Hunderte von Metern höher zu sein. Seine Spitze ragte unendlich weit in die Atmosphäre hinein. Einige Mitbürger nahmen die Gestalt von schreckenerregenden Ungeheuern an. Über die Straße hinkte ein widerlich schmutziger Hund von gigantischen Dimensionen, der den erbarmenswerten Wicht um ein Haar mit seiner vernichtenden Riesenpfote zertreten hätte. Der horrible Zustand dauerte jedoch nur für den Bruchteil einer Sekunde. Dann schrumpften alle Gegenstände und Lebewesen wieder zur gewohnten Größe zusammen.

Da sich noch immer keine Möglichkeit geboten hatte, seinen Riesenhunger zu stillen, ging Max eilends in eine andere Gaststätte, die derzeit als das beste Speiserestaurant in der Stadt galt. Dort spielte auf seinem Tasteninstrument ein ältlicher, grauhaariger Organist wohlbekannte, stimmungsvolle Weisen, die jedoch beim näheren Hinhören andersartig, ja, fast absonderlich klangen. Der Neuankömmling war äußerst erstaunt, als er wahrnahm, daß die hier anwesenden Leute tatsächlich etwas aßen, ja, geradezu eine unwahrscheinliche Gefräßigkeit an den Tag legten. Die hungerigen, unersättlichen Mäuler verschlangen gierig und geräuschvoll die unappetitlichen, von Fett triefenden Fleischbrocken, die ihnen von mehreren umherflitzenden, miniberockten Serviererinnen auf überaus flachen, ovalen Tellern gereicht wurden. Das ungebührliche Schmatzen der Eßlustigen übertönte selbst die Stimmungsmusik. Da die Getränke- und Speisekarte zwar griffbereit auf dem Tische bereitlag, jedoch ebenfalls unleserlich war, bestellte Max bei der herannahenden Bedienung vorläufig ein kühles Helles und harrte gespannt der Dinge, die da kommen sollten. Er hätte es niemals für möglich gehalten, daß er hier so prompt bedient würde. Nach etwa einer halben Minute war sein unentbehrliches Bier zur Stelle. Es war allerdings, wie er bereits geahnt hatte, wegen seines scheußlichen Geschmackes untrinkbar.

Auch in diesem Lokal wurde Max von den anderen Gästen unverhohlen angestarrt, als käme er von einem fremden Planeten. Unanständig mit vollen Backen kauend, fixierten sie ihn in ungehöriger, unverfrorenster Weise. Der Begaffte fragte sich, wie die Freßgierigen wohl reagieren würden, wenn er jetzt wieder wie ein Berserker losbrüllen würde. Welche Desaster könnten eintreten? Welche Fährnisse würde er herausfordern? Der Gefahr trotzend, strengte er sich an, einen besonders durchdringenden und ohrenzerreißenden Schrei auszustoßen. Die Wirkung war verblüffend. Der fröhliche, genußvolle Schmaus wurde auf den einsetzenden Spektakel hin mit einem Schlage gestoppt; jedermann verharrte regungslos. Max kreischte wie ein hysterisches Weib, johlte wie ein Lausejunge und grölte wie ein Volltrunkener. Die ganze Stadt schien von seinem lärmenden Gebrüll widerzuhallen. Die Mauern begannen bedrohlich zu beben. Die Deckenbalken knackten furchteinflößend. Der Boden unter seinen Füßen schwankte, als ob er von einem Erdbeben erschüttert würde. Mit einem grellen Mißklang brach der Orgelspieler sein melodiöses Spiel ab. Er stand ruckartig auf, griff tief in seinen Mund, nahm kurzentschlossen seinen Zahnersatz heraus und schleuderte ihn in Richtung des Schreienden. Dieser fuhr geistesgegenwärtig zur Seite, um von dem Gebiß nicht getroffen und verletzt zu werden. So fielen die künstlichen Zähne klatschend in das vor ihm stehende Bier. Max erblickte zu seinem Staunen, daß neben der Prothese auch die Zunge des Musikers im Glase schwamm.

Mittlerweile war sich Max nun völlig darüber klar geworden, daß vornehmlich durch schneidende Schrilltöne jene unfaßlichen Veränderungen zustande kamen. Fortan schrie er immer gellender. Den Gästen am Nebentisch fielen auf der Stelle die Köpfe ab und kugelten mit ohrenbetäubendem, noch nie dagewesenem Donnergepolter auf dem rissig werdenden Parkettboden dahin. Gleichzeitig zerbarst mit höllischem Gelärme das Mobilar. Da sich Max darauf gefaßt machen mußte, das bebende Haus würde über seinem Kopf zusammenstürzen und die Trümmer könnten ihn lebendig begraben, hastete er, von Todesfurcht gepackt, nach draußen.

Seine markerschütternde Schreierei hatte in der Stadt ein Chaos unübersehbaren Ausmaßes ausgelöst. Überall regierte das nackte Entsetzen. Das heillose Durcheinander, die grauenhafte Wirrnis spottete jeder Beschreibung. Der Teufelsspuk hatte offenbar seinen Höhepunkt erreicht. Die meisten Autos lagen mit den Rädern nach oben auf dem aufgerissenen Pflaster. Zahllose, aus allen Poren blutende Menschenköpfe rollten auf den Gehsteigen entlang. Max bückte sich und nahm einen Kopf, der soeben bis vor seine Füße gekullert war, bei den Haaren, um ihn in ein Schaufenster zu werfen. Das Glas war jedoch wie Gummi dehnbar. Es bog sich federnd nach innen, wodurch der blutüberströmte Kopf wie ein Bumerang zurückgeschleudert wurde. Max mußte sich blitzschnell ducken, denn sonst wäre ihm sein eigenes Wurfgeschoß ins Gesicht geschnellt.

Max schrie aus Leibeskräften. Er schrie in den höchsten, grellsten Tönen. Er schrie, als ob er am Spieße stäke. Er schrie, wie ein Besessener nie hätte schreien können. Er schrie, als ob er seine grauenvolle Umwelt wie einen nervenzerrüttenden Alpdruck abzuschütteln suchte.

Diesmal zeigte sich endlich ein überraschender Erfolg. Das Straßenpflaster lockerte sich dermaßen auf, daß das darunterliegende Erdreich sichtbar wurde. An allen Ecken und Enden kamen klaffende, immer gewaltiger werdende Löcher zum Vorschein, die sich zu grabenähnlichen Vertiefungen ausweiteten und aus denen frischsprießendes Gras und saftiggrünes Moos schimmerte. Die Häuser neigten sich einsturzdrohend; ihre Umrisse wurden nebelhaft und verschwommen, die Mauern nach und nach durchsichtiger. Aus den schwindenden Fenster- und Türöffnungen wuchsen knorrige Äste und gewundene, laubbedeckte Zweige. Ein vernehmliches Sausen erklang in den Lüften, und im Verlaufe eines Atemzuges hatte sich die Geisterstadt in ein Nichts aufgelöst.

Max taumelte halb besinnungslos ins schwellende Moos. Er befand sich in unmittelbarer Nähe jenes Baumstumpfes, auf dem er sich in der letzten Nacht schlaftrunken und berauscht niedergesetzt hatte. Das Land ringsum lag im hellsten Sonnenschein. Es war drei Uhr nachmittags.

Max schlich nachdenklich durch das Wäldchen heimwärts. Als er zufällig einmal zum Himmel aufblickte, sah er hoch über sich einen kreisrunden, unbestimmbaren Flugkörper, soeben in der wolkenlosen Bläue verschwindend. Das könnte ein UFO gewesen sein, fuhr es ihm in den Sinn. Heiß und kalt überlief es seinen Rücken. Schaudernd ließ er sich die mysteriösen Vorgänge der vergangenen zwölf Stunden noch einmal durch den Kopf gehen. Hatte er geschlafen? War er in einem Alptraume befangen gewesen? Oder hatte er unter den sinnverwirrenden Einflüssen außerirdischer Mächte gestanden?

Seine Zechgenossen, denen er am folgenden Abend sein schauerliches Erlebnis ausführlich erzählte, schenkten seinen Worten keinen Glauben. Sie hatten die aufsehenerregenden Zeitungsberichte über das vermehrte und beunruhigende Auftreten der "fliegenden Untertassen" freilich nicht gelesen, weil sie sich nur für die schwarzumränderten Todesanzeigen interessierten. Sie vertraten die ungeteilte Meinung, daß es geradezu erbärmlich wäre, wenn ein Mensch kein Bier mehr vertrage, und rieten deshalb dem ausgedienten Pädagogen, er solle halt mit der unmäßigen Trinkerei Schluß machen.

Max hat sich dennoch entschlossen, seinen Alkoholgenuß nicht einzuschränken. Im Gegenteil: er verfiel gänzlich und unrettbar dem unheilvollen Trunke. Derartige spukhafte Erscheinungen sind jedoch in seinen weiteren Lebensjahren nicht wieder vorgekommen, wohl aber solche, die sich jetzt eindeutig und unzweifelhaft als Hirngespinste herausstellten - greuliche Wahngebilde eines vergeisenden, verkalkenden, geistesverwirrten und hinfälligen Biertrinkers.

© Manfred Wirth

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