Hoffnungslos
(Erzählung von Manfred Wirth)

 

Ich fühle mich krank, sterbenskrank. Das unbegreiflich schreckliche Geschehnis der vergangenen Nacht und die damit verbundene Todesgefahr, die namenlose Angst, das gliedererstarrende Entsetzen und nicht zuletzt die erlittenen Martern haben meinen Körper dermaßen geschwächt, daß ich hilf-, rat- und kraftlos auf dem harten, behelfsmäßigen Lager daniederliege und außerstande bin, aus dem unheimlichen Hause zu fliehen. Ich weiß, daß in wenigen Stunden neues, furchtbares Unheil herannaht, sehe aber keine Möglichkeit, dem grauenhaften Tode zu entrinnen.

Doch will ich mich aufraffen und versuchen, bis zum Einbruch der gefahrbringenden Dunkelheit das Erlebte wahrheitsgemäß niederzuschreiben, vorausgesetzt, daß ich in meinem jammervollen und wahrlich hoffnungslosen Zustand zu dieser aufreibenden Tätigkeit überhaupt noch fähig bin.

Ich möchte nicht vergessen, eingangs zu erwähnen, daß mir schon in frühester Kindheit die Gabe zu eigen war, Unglück und Katastrophen mehrere Tage vorher gefühlsmäßig zu ahnen oder in nervenzerrüttenden Angstträumen vorauszusehen. Beispielsweise hatte ich als kleiner Junge den tragischen Tod meiner ältesten Schwester in einem quälenden Alpdruck miterlebt. Eine Woche nach besagtem Traume stürzte Marianne infolge Trunkenheit auf unserer steilen Kellerstiege derart unglücklich, daß sie das Genick brach und auf der Stelle ihren Geist aushauchte. Ähnlich verhielt es sich auch bei dem tödlichen, selbstverschuldeten Verkehrsunfall meiner geliebten Eltern. Noch jetzt, wenn ich meine Augen schließe, sehe ich erschreckend deutlich das zertrümmerte Fahrzeug vor mir, in dem Vater und Mutter, in ihrem Blute sich wälzend, unter höllischen Qualen endeten. Trübe Ahnungen beschlichen mich auch wenige Tage vor der verheerenden Feuersbrunst auf dem ehemals stattlichen Gehöft meines Onkels. Binnen einer Stunde wurde damals der schmucke, idyllisch gelegene Bauernhof ein Raub erbarmungsloser Flammen. Doch bin ich jetzt in meiner aussichtslosen Lage nicht gesonnen, schmerzliche Ereignisse meiner schreckens- und entbehrungsreichen Jugendzeit aufzuzählen.

Weit mehr bewegt und geängstigt als das oben Geschilderte, hat mich in den letzten Wochen ein unvergeßlich häßlicher, aufwühlender Alptraum, der sich unbarmherzig zahllose Male wiederholte und in mir schließlich eine Furcht, eine unsagbare Todesfurcht erweckte, wie ich sie in meinem kummervollen Leben noch nicht empfunden habe. Ungezählte Nächte hintereinander träumte ich folgendes: Ich stand allein in einem unbekannten, kellerartigen, schier endlosen Gang. An den schwarzen, hoch emporragenden Wänden hingen eigenartig geformte, undefinierbare Gegenstände, die mitunter menschlichen Skeletten mit bizarren Verrenkungen ähnelten. Ich spürte intuitiv, daß in unmittelbarer Nähe etwas Unbestimmtes, Unerklärliches auf mich lauerte und mir höchste Gefahr drohte. Unverwandt hielt ich meinen Blick auf das äußerste Ende des langen Tunnels gerichtet, denn ich wußte, daß dort das Unfaßbare, Grauenvolle jeden Augenblick Gestalt annehmen würde. Die gefürchtete Erscheinung ließ nicht lange auf sich warten. Ein grünschimmerndes, fast durchsichtiges Etwas glitt langsam und schlangenartig, jedoch mit schreckeinflößender Zielstrebigkeit, wenige Zoll über dem Fußboden dahin. Das ekelhafte Ungetüm wies keine scharfbegrenzten Umrisse auf, hatte aber in seinen Bewegungen etwas ungemein Lebhaftes, immerzu Vibrierendes an sich. Vergeblich versuchte ich, mich von diesem herzbeklemmenden Anblick zu befreien. Die lähmende Starre, die mich befallen hatte, verbot mir, meine Glieder zu regen. Das greuliche Spukgebilde schwebte unaufhaltsam auf mich zu, bis es mir endlich gelang, mit einem schrillen, laut durchs Haus hallenden Aufschrei den lastenden Nachtmahr abzuschütteln, schweißtriefend, halb besinnungslos in meinem zerwühlten Bett hochzufahren und nach Atem zu ringen.

Auch an den darauffolgenden Tagen hat mir dieses schauderhafte, sich fortwährend wiederholende Alpdrücken keine Ruhe gelassen. Oftmals grübelte ich stundenlang, um die Bedeutung jenes beunruhigenden Traumes zu erklären; indes, alle meine Bemühungen waren vergebens. Bohrende Kopfschmerzen marterten mich hartnäckig, meine Nerven waren verständlicherweise überreizt und ich fühlte mich elend. Deshalb hatte ich mich am gestrigen Nachmittag entschlossen, zu einem ehemaligen Schulkameraden, einem bekannten Autor utopischer Romane zu reisen, der eine entlegene Villa am Rande des großen, erholungsspendenden Teutoburger Waldes bewohnte. Ich hegte die Hoffnung, in der lieblichen, unberührten Natur mein seelisches Wohlbefinden wieder zu erlangen und die allnächtlichen, stereotypen Visionen vergessen zu können.

Ein graublauer Dunst umhüllte die fichtenbestandenen Höhen des weiten, unüberschaubaren Weserberglandes, als ich mit meinem neuen Wagen das steinige, baumlose Sträßchen zu dem abgeschiedenen Haus des namhaften Schriftstellers entlangfuhr. Ich befand mich schon annähernd eine halbe Stunde auf dem holperigen, kurvenreichen Weg, als ich mir erst der grenzenlosen Einöde bewußt wurde. Zu meiner Verwunderung hatte ich bisher im ganzen Umkreis noch keine Menschenseele entdeckt. Da die Dunstschleier sich allmählich zu milchigen, undurchdringlichen Schwaden verdichteten, die in niedriger Höhe über das wellige Gelände wallten und mir nahezu jegliche Sicht nahmen, erregte alsbald kein Baum und kein Strauch meine Aufmerksamkeit. Das einzige, was ich in dem ungewöhnlich dicken Nebel wahrzunehmen vermochte, waren die windschiefen Telegrafenmasten, die in regelmäßigen Abständen schemenhaft zu meiner Rechten vorbeihuschten. Der beschwerliche, nicht enden wollende Feldweg erforderte größte Konzentration. Da die Monotonie der nebelverhüllten Landschaft einschläfernd, ja, beinahe hypnotisierend wirkte, verließ ich für wenige Minuten das Fahrzeug, in dem Vorhaben, Ablenkung zu suchen und mich von der ermüdenden Fahrt zu entspannen. Als ich aber kurz darauf mutterseelenallein unter trostlos verhangenem Himmel stand, ringsum nur schrankenlose Eintönigkeit sah und keinen vertrauten Laut vernahm, überkam mich mit einemmal das Gefühl sinnbedrückender Verlassenheit. Ein gelinder Schauer rieselte über meine Haut, als von Zeit zu Zeit aus geringer Entfernung ein rätselhaftes Klingen und Summen an mein Ohr drang. Nach angestrengtem Horchen stellte ich erleichtert aufatmend fest, daß die fremdartigen Geräusche nur von den Telefonleitungen herrührten. Infolge eines spürbar frischen Windes verursachten die Porzellanisolatoren auf den Freileitungsmasten jene eigentümlich sirrenden, in der unbegrenzten Weite fast unheimlich anmutenden Töne von wechselnder Lautstärke.

Kaum hatte ich mich wieder hinter das Steuer gesetzt und mit meinem Wagen etliche Meter zurückgelegt, zeichnete sich der dunkle, unendlich scheinende Fichtenwald schattenhaft vor mir am schiefergrauen Horizont ab. Ich wußte nun, daß ich von dem Hause des Einsiedlers nicht mehr allzuweit entfernt sein konnte. Nach einer scharren Wegbiegung tauchte auch schon zu meiner freudigen Überraschung auf der linken Straßenseite der außerordentlich hohe Umfriedungszaun des abgelegenen Gebäudes auf. Ich stoppte meinen Wagen und stieg rasch aus.

Schon viele Jahre war ich nicht mehr in dieser verlorenen Gegend gewesen. Mit meinem Freunde stand ich nur noch in schriftlicher Verbindung. Bekümmert rief ich mir den Inhalt seiner letzten Briefe ins Gedächtnis zurück. Wie oft hatte er mich inständig um einen Besuch gebeten! Wie oft hatte er bitterlich geklagt, daß er seit einiger Zeit für seine spannenden Zukunftsromane keine Verleger fand, gänzlich mittellos sei und finanzielle Hilfe dringend nötig hätte! Wie oft hatte er den brennenden Wunsch geäußert, ich solle ihn aus seiner dumpfen Melancholie und seiner tiefen, überwallenden Verzagtheit aufrütteln! Aus beruflichen und familiären Gründen hatte ich jedoch immer wieder seine freundlichen Bitten abschlagen und seine liebenswürdigen Einladungen ablehnen müssen. Sicherlich fühlte er sich jetzt ganz verlassen und lebt kümmerlich in seiner selbstgewählten Einsamkeit. Versunken in solchen oder ähnlichen Gedanken lief ich eilends auf das nahegelegene Haus zu, bis ich zu Tode erschrocken innehielt. Ich hatte geglaubt, das Gebäude so vorzufinden, wie es in meiner Erinnerung noch ungetrübt haftete. Offensichtlich war hier eine unvorstellbar teuflische Verwandlung vorgegangen! Wo waren die hochstämmigen Rosen im Vorgarten, die mit grandioser Farbenpracht und herrlichem Duft jeden Besucher erfreuten? Wo war der wilde Wein, der sich üppig bis zum roten Ziegeldach emporrankte? 0 Gott! Welch' scheußlicher Anblick stellte sich meinen Augen dar! Halb abgerissen hingen die morschen Fensterläden an den unansehnlich bröckeligen Wänden, das Dach wies mehrfach erhebliche Beschädigungen auf und war an einer Stelle sogar eingebrochen. Ungehindert wucherte das Unkraut im einstig malerischen Ziergarten. Der beklagenswerte Zustand des gesamten Anwesens versetzte mich in arge Bestürzung.

Mühsam bahnte ich mir durch dichtverschlungenes, mannshohes Dickicht einen Weg. Aufgrund der unglaublichen Verwahrlosung lag die Vermutung nahe, daß das Landhaus mindestens ein Jahrzehnt unbewohnt war. Daher wunderte ich mich, daß mein Freund den vermeintlichen Wohnungswechsel in seinen zahlreichen Briefen mit keinem Wort erwähnt hatte.

Doch dann erschrak ich zutiefst, als unvermutet, unmittelbar vor meinen Augen, scheinbar wie von Geisterhand bewegt, die Haustüre sich mit überlautem, geradezu ohrenbetäubendem Kreischen in den rostigen Angeln drehte und in der Öffnung eine jämmerliche Gestalt zum Vorschein kam: schockierend mager, leichenhaft blaß, die Kleidung zerlumpt und speckig, die Gesichtszüge gräßlich verzogen, aus weit aufgerissenen Augen mich begriffstutzig anglotzend. "Herbert", rief ich aus, als ich schaudernd meinen teueren Freund erkannte. Als ich ihn sorgenvoll betrachtete, bestürmten mich unangenehme, unnennbare Empfindungen. Ich konnte mich eines Gefühls heftigen Grauens nicht erwehren. Regungslos verharrte ich in Schweigen und Betroffenheit; indessen mein Gegenüber ohne ersichtlichen Grund in ein homerisches, echoendes, nahezu geisterhaft gellendes Gelächter ausbrach. In diesem Moment wurde mir offenbar, daß das zurückgezogene Leben, die langweilige Einförmigkeit des menschenleeren Landstriches und die bedrückende Abgeschiedenheit des verfallenen Hauses den Eremiten um den Verstand gebracht hatten.

Ich entsann mich, daß Herbert schon in früheren Jahren ein unverbesserlich trübsinniger Misanthrop gewesen war und einige sonderliche Eigenschaften besaß, die mir von jeher große Sorgen bereiteten. Durch seine vampirhaft vorstehenden Eckzähne war er in der Schulzeit derart gehänselt und verspottet worden, daß er bis zum heutigen Tage den Spitznamen "Graf Dracula" davontrug. Diese verletzende Beschimpfung und Verhöhnung, sowie viele andere, an dieser Stelle unwichtige und deshalb ungenannte Erlebnisse mochten ihn bewogen haben, unsere überfüllte Stadt zu meiden und hier auf dem Lande, meilenweit fern von menschlichen Siedlungen, in ruhiger, bewaldeter Umgebung, sein bescheidenes Haus erbauen zu lassen. Nun stand der Menschenfeind also vor mir: knochig und dürr, mit seinem markant makabren Aussehen und bot ein Bild des Jammers. Da mir schon seit langem zur Gewißheit geworden war, daß Pessimismus und Weltschmerz seine Gemütsverfassung zunehmend verfinsterten und eine anhaltende, niederdrückende Traurigkeit sein leidendes Herz erfüllte, flößte mir das unerwartete, irrsinnige Lachen des Melancholikers schieres Entsetzen ein. Durch das donnernde Gebrüll traten die bemerkenswert spitzen Zähne in dem fratzenhaft verzerrten Gesicht mehr denn je hervor. Eine verteufelte Ähnlichkeit zwischen meinem Freund und einem blutgierigen Vampir ließ sich beim besten Willen nicht leugnen. Für eine Sekunde stieg in mir der absurde Verdacht hoch, er sei tatsächlich ein Untoter.

Unverhofft änderte sich sein besorgniserregendes Verhalten; das bleiche, abgezehrte Gesicht nahm zu meiner Erleichterung wieder die mir wohlbekannten, schwermütigen Züge an. "Ach, du bist es", sagte er leise und stammelte einige unzusammenhängende, meist unverständliche Worte. Dann führte er mich geradewegs in das Innere seiner kläglichen Behausung. Mißtrauisch folgte ich ihm in die unbehaglich finsteren Räume. Nachdem wir schweigsam mehrere fensterlose, ineinander verzweigte Gänze durchschritten hatten, öffnete er plötzlich eine überaus breite Schiebetüre zu einem meinen Blicken noch verborgenen Zimmer und gab mir mit einer müden Handbewegung zu verstehen, daß ich eintreten solle. An der Schwelle blieb ich jedoch im höchsten Grade betroffen und völlig fassungslos stehen, als ich trotz vorherrschender Düsterkeit (durch die blinden, verschmutzten Fensterscheiben sickerte nur spärliches Tageslicht) den fortgeschrittenen Verfall und die ekelerregende Verunreinigung seines Arbeitszimmers gewahrte. Übelriechender, schimmeliger Unrat bedeckte den Fußboden. An allen Ecken und Enden hingen Spinnweben. Ekles Ungeziefer kroch an den rissigen Wänden hoch, Die wenigen Möbelstücke waren wurmstichig und wegen der übermäßigen Raumfeuchtigkeit größtenteils verfault. Bei dem bloßen Gedanken, längere Zeit in dieser unsauberen und vollkommen verwahrlosten Wohnung zu verweilen, empfand ich einen derartigen Widerwillen, daß ich mich mühen mußte, um nach außen hin meine Abscheu zu verbergen und das Gefühl würgender Übelkeit zu unterdrücken. Als ich all dem himmelschreienden Elend gegenüberstand, kam mir erst zum Bewußtsein, welch' gottserbärmliches und menschenunwürdiges Dasein mein Freund in dieser Ruine führte und daß er offenbar kaum das nackte Leben fristete.

Während ich innerlich noch mit dem Ekel kämpfte, deutete der Unglückliche mit seinem knochendürren Zeigefinger auf einen uralten, zerschlissenen Sessel, um mir Platz anzubieten.

Stotternd fing er an, mir sein Leid und seine Not zu klagen. Das Blut gerann mir in den Adern, ich dachte, mein Herz müsse stillstehen, als ich erschüttert seiner weinerlichen Stimme lauschte.

"Sehenden Auges bin ich ins Verderben gerannt", begann er zu berichten. Er schilderte in unbeholfen langatmiger Weise, wie er durch seinen liederlichen und sündhaften Lebenswandel in bitterste Armut geraten sei. Qualvolle Leiden und Gebrechen, deren Ursache er sich infolge mißglückter Selbstmordversuche wohl selbst zuzuschreiben hatte, hätten ihn jahrelang auf sein Bett gefesselt. Seinen verworrenen und weitschweifenden Lebensbericht schloß er mit den unfaßbaren Worten: "... und letzte Nacht ist der Tod selbst bei mir gewesen."

Ich bat ihn, doch näheres von seinem nächtlichen Schrecknis zu erzählen.

Leise und kaum hörbar sprach er: "Zu vorgerückter Abendstunde saß ich an meinem offenen Schlafzimmerfenster und lauschte nachdenklich der monotonen Melodie des nahen, windbewegten Waldes. Da bemerkte ich auf einmal über den nachtschwarzen Bäumen eine befremdliche Helligkeit. Anfangs vermeinte ich, der Vollmond ginge mit hellrotem Leuchten hinter den fernen Bergen auf, doch dann sah ich, daß der Himmel über und über bedeckt war. Mond und Sterne waren hinter einer undurchsichtigen Wolkenwand verborgen. Plötzlich erschien ein aufdringlich leuchtender, weithin strahlender Flugkörper am Horizont und erhellte mein gesamtes Schlafgemach mit grellem, augenblendendem Schein. Das unbestimmbare Objekt schwebte in beträchtlicher Höhe über den hochragenden Wipfeln gleichmäßig hin und her, bis es sich schließlich langsam und geräuschlos senkte. Wahrscheinlich war es auf der kleinen, sumpfigen Waldwiese, unweit meines Hauses, niedergegangen. Daraufhin war alles wieder düster wie je zuvor."

Herbert stockte in seinem Bericht. Ich glaubte, er müßte sogleich vor Schwäche zusammenbrechen.

Erst nach einer längeren Pause fuhr er fort: "Angsterfüllt legte ich mich schlafen. Von einer peinigenden Traumerscheinung hochgeschreckt, erwachte ich jedoch inmitten der schaudervollen Nacht. Ein nervöses Unruheempfinden und ein beängstigendes Vorgefühl nahendem Unheils hatte sich meiner bemächtigt. Ich trug mich mit dem Gedanken, ein Glas frisches Wasser zu trinken, weil ich hoffte, auf diese Weise das beklemmende Unbehagen zu beseitigen oder wenigstens zu lindern. Als ich jedoch ahnungslos meine Schlafzimmertüre öffnete, meinte ich, vor Schreck zu Boden sinken zu müssen. Denn plötzlich kam mir im Korridorgang ein Licht entgegengeschwebt; es war ein grünes, vibrierendes, fürchterliches Licht? Ich war mit einemmal wie gelähmt..."

Mir war es nicht mehr möglich, den Worten meines verängstigten Freundes länger zu lauschen. Mich überlief ein kaltes, zähneklapperndes Grausen, wie ich es bisher noch nicht gekannt hatte. Mich durchzuckte die Erkenntnis, daß es zweifellos meine Traumvision war, wovon er sprach. Erst nach geraumer Weile war ich in der Lage, meinem Freunde wieder andächtig zuzuhören, der in seiner schauerlichen Erzählung unterdessen unbeirrt fortgefahren war und mein jähes Erschrecken allem Anschein nach nicht wahrgenommen hatte.

"Am heutigen Morgen, als ich wieder zur Besinnung gelangt war", flüsterte er, "lag ich unmittelbar vor meiner Schlafzimmertüre, genau an der Stelle, wo sich das grauenerweckende Scheusal auf mich herabgelassen hatte. Nein Instinkt sagt mir, daß es heute nacht wieder erscheinen wird. Mir ist, als wenn das ungeheuerliche Ding mir den Lebenssaft aus den Adern gezogen hätte. Ich fühle, daß ich viel Blut verloren habe, obwohl an meinem ganzen Körper keine einzige Wunde zu finden ist. In der kommenden Nacht", dabei sah er mich warnend an, "ja, in wenigen Stunden wird es wieder unabwendbar in mein Haus eindringen. Bringe dich in Sicherheit, wenn dir dein Leben lieb ist."

Dann brach der Erzähler bewußtlos zusammen. Ich trug mich mit der Absicht, ihn in mein Auto zu schleppen, um ihn unverzüglich zu einem Arzt zu bringen. Allein, er lag unverrückbar auf dem klebrigschmutzigen Fußboden und es wollte mir trotz äußerster Kraftanstrengung nicht gelingen, ihn von der Stelle zu bewegen. So raste ich, vom Grauen gepackt, zu meinem Wagen, um den schreckenvollen Ort schleunigst zu verlassen. Allein, der Motor sprang aus unerklärlichen Gründen nicht an. Fortan überließ ich mich der Verzweiflung. Ich wagte nicht, den stundenweiten Weg zu Fuß zurückzulaufen, da ich befürchtete, das gefährliche Geisterlicht könnte mir auf offener Flur begegnen. Zudem begann es bereits zu dunkeln. Deshalb beschloß ich, mich in einem Zimmer des Hauses zu verbarrikadieren. Voller Angst schlich ich wieder zurück in die spinnwebenbehangenen Gemächer, wobei ich fast über meinen bewegungslos daniederliegenden Freund gestolpert wäre, den ich im Dämmerlicht übersehen und vor lauter Aufregung völlig vergessen hatte. Ich beugte mich über den Sterbenden und betrachtete sein ausgemergeltes, vom Schrecken gezeichnetes Gesicht. Wie von Sinnen lag er in Staub und Moder und murmelte unaufhörlich die gleichen Worte: ,,Rette dich, rette dich, rette dich.."

In einer winkeligen, bretterverschlagenen Nebenkammer, direkt an diesem Raume angrenzend, schloß ich mich ein, um einer grauenvollen Nacht zu harren. Ich unternahm den Versuch, die eisenbeschlagenen Fensterläden zu verriegeln. Allein, die verrosteten Eisenschienen brachen, das faulige Holz spreißelte, die zwei schweren Klappläden entglitten meinen Händen, fielen unvermeidlich auf den steinernen Hof und zerbarsten lautkrachend. So war es mir nur möglich, die beiden Fensterflügel zu verschließen. Da mich andauernd phantasmagorische Vorstellungen quälten, unter anderem, daß ein gespensterhaftes Wesen draußen stände und unablässig durch die Scheiben starre, ging ich sofort daran, die Vorhänge zuzuziehen. Allein, der dünne, stockige Stoff zerriß, die alte Gardinenleiste fiel lärmend herab, streifte dabei unglücklicherweise das Glas und zerschmetterte in zahllosen Teilen vor meinen Füßen. Da glich das zerbrochene Fenster einem pechschwarzen, grausigen Loch.

Ich gedachte, sofort einen anderen wohnlicheren und geschützteren Raum aufzusuchen; indes, nein Angstempfinden versagte es mir, das moderige Gelaß zu verlassen. Überdies hörte ich hin und wieder ein merkwürdiges Rasseln aus dem Nebenzimmer, für dessen Entstehen ich keine Erklärung fand. Doch als gleich darauf das klagevolle Stöhnen des Windes die spukartigen Geräusche überlagerte und sie unhörbar machte, durchdrang mich die Überzeugung, daß ich einer Täuschung unterlegen war und mir nur meine aufgepeitschten Nerven einen bösen Streich gespielt hatten. Da mir das Licht der winzigen, drahtvergitterten Glühbirne nicht ausreichte, zumal es wegen eines Wackelkontaktes ohne Unterlaß flackerte, zündete ich zusätzlich eine altmodische Öllampe an, die ich nach neugierigem Stöbern aus einer riesigen Kommode hervorgekramt hatte. Allein, auch ihr armselig funzelnder Schein vermochte die grimmen Schatten nicht zu verbannen. Zitternd ließ ich mich auf einen wackeligen Lehnstuhl nieder, um den wenigen schönen Stunden meines Lebens zugedenken, in denen zartes, ungetrübtes Glück die daseinsvergällenden Sorgen und Kümmernisse vorübergehend verdrängte. Ich war felsenfest davon überzeugt, bei den liebsamen, wenn auch nebelhaften Erinnerungen an längst entschwundene Zeiten würde mein Geist die horrible Gegenwart nicht in derart schmerzhafter Deutlichkeit erfassen. Allein, ich war nicht imstande, mich nur an ein einziges erfreulich nachwirkendes Erlebnis zurückzuerinnern. Trübselig hockte ich auf dem altertümlichen Stuhle und gab mich meinem Grame hin. Ab und zu schreckte ich grundlos aus meinen Grübeleien auf und blickte ängstlich zum lädierten Fenster, durch dessen gezackten Loch die ungewohnten Geräusche der schaurigen Nacht hereindrangen. Gedankenvoll lauschte ich dem zornigen Heulen des aufkommenden Sturmwindes, dem entfernten wilden Harfen in den Telefondrähten und dem immerwährenden einförmigen Rauschen des nächtigen Waldes. Der traurige, schaudererregende Gesang eines Kauzes weckte mehrfaches Echo. Ich entdeckte den graugefiederten Nachtvogel mit seinen phosphoreszierenden Augen, die mich minutenlang unbewegt anstarrten, auf einem tiefherabhängenden Ast, greifbar nah vor dem Fenster. Mit lautlosem Flügelschlag erhob sich das Tier jedoch nach kurzer Zeit und flog, die unheilverkündenden Rufe unbeirrt fortsetzend, in die Schwärze der Waldwildnis hinein. Nur noch von ferne trug mir der Nachtwind sein allmählich verhallendes Klagelied zu. Doch auch das Haus selbst war voller Geräusche. Immer wieder ächzte der Dielenboden. Bedrohlich knisterten und knackten die Balken. Irgendwo piepste eine Maus und unausgesetzt tickten die Totenuhren. Da durch die zersplitterte Fensterscheibe ungehindert eisige Luft strömte und ich am ganzen Körper entsetzlich fror, warf ich eine wollene Decke über mich, die ich in einer niedrigen, dunkelholzigen Truhe gefunden hatte. Dennoch fröstelte mich. Mir war angst. Meine Knie schlotterten und meine Zähne klapperten aufeinander. Endlos verstrichen die Stunden, Stunden der Furcht, Stunden des Grauens.

Da, inmitten der atemlosen, deprimierenden und angstvollen Spannung gellte ein langanhaltender, herzzerreißender und markerschütternder Schrei durch die unheilschwangere Düsternis. Es war unverkennbar ein Schmerzensschrei, wie er nur in höchster Seelenpein ausgestoßen werden kann - es war der Todesschrei meines erbarmungswürdigen Freundes.

Ich getraute mich jedoch nicht, meine Kammer zu verlassen, denn mir grauste vor dem Ungewissen, vor einer womöglich gefahrvollen Begegnung mit dem Unheimlichen. So öffnete ich die Türe nur einen Spalt und horchte angespannt in das stockfinstere Gemach meines Kameradens hinaus. Doch hier herrschte jetzt Stille - - - Totenstille.

Erst nach einer weiteren bangen Stunde war es mir vergönnt, sein wahnsinniges Angstgefühl einigermaßen zu überwinden und den Mut zu fassen, nach meinem Freunde zu sehen, der in Raume nebenan noch in seinem körperlichen und seelischen Schmerze liegen mußte. Nickte Gutes ahnend tastete ich mich in sein Zimmer. Er lag noch immer reglos ausgestreckt und scheinbar ganz unverändert da. Erst als ich zaghaft nähertrat, gewahrte ich, starr vor unerhörtem Grauen und Entsetzen, daß sein Hals durchgebissen und der Kopf von Rumpf fast vollständig abgetrennt war.

Just in diesem Augenblick vernahm ich wieder das furchterweckend rasselnde Geräusch. Doch jetzt erschallte es stärker wie nie zuvor. Zweifellos bestand es diesmal nicht in meiner Einbildung. Ich erkannte, daß der Ursprung des spukhaften Gerassels anscheinend in Korridor oder im Treppenhaus zu suchen war. Darum öffnete ich sachte die Zimmertüre und trat alsdann in den staubigen Vorraum hinaus, der nur von einer gelumpigen, schiefhängenden Lampe dürftig erleuchtet wurde. Mit seiner gewölbten, einsturzgefährdeten Decke und den schwärzlichen, putzlosen Mauern hatte der lange Gang unzweifelhaft etwas Tunnelartiges an sich. Die kitschigen, teils in stinkiger Fäulnis übergegangenen Zierate, welche in geschmackloser, symmetrischer Anordnung zu beiden Seiten der Diele an den Wänden hingen, glichen auf erschreckender Weise unzähligen halbvermoderten Gerippen mit seltsamen Verrenkungen. Entsetzt starrte ich den dumpfigen Flur entlang; indessen nahm die Lautstärke des sonderbaren, noch nie gehörten Geräusches zu und schwoll zu einem unerträglich tosenden Lärm an. Bin eiskaltes Grausen schüttelte mich nieder, als ich auf einmal im hinteren Teil des düsteren Dielenganges eine grünliche, freischwebende, sich ständig bewegende Masse erblickte, die in ihrer Höhe und Breite den ganzen Korridor ausfüllte und ein gespenstisches, augenschmerzendes Licht aussandte. Es wäre Tollheit, das grauenerregende Ungeheuer in seinen Details zu beschreiben. Mir wurde schwarz vor den Augen; eine gliederlähmende Mattigkeit übermannte mich und ich sank ohnmächtig zu Boden. Das letzte Bild, an das ich mich noch verschwonmen entsinnen konnte, war, daß das widerliche Ding unerbittlich näher und näher glitt und sich mit alptraumhafter Schwere und Langsamkeit auf mich herabsenkte.

Todmatt erwachte ich heute morgen. Daß alles kein Traum, sondern die rauhe, grausame Wirklichkeit gewesen war, steht außer Zweifel. Ich versuchte aufzustehen, was mir unter mühseligen Anstrengungen schließlich gelang. Mit Müh und Not vermochte ich das Fenster zu erreichen, um vorbeikommende Autofahrer auf meine unsägliche Pein aufmerksam zu machen. Indes, kein Fahrzeug fahrt diese einsame Strecke, kein menschliches Wesen betritt diese gottverlassene Gegend, niemand hilft mir in meiner Qual. So trug ich meine Hoffnung auf Rettung, an die sich meine letzten Lebenskräfte geklammert hatten, zu Grabe. Eine innere Stimme sagt mir, daß in der nun folgenden Nacht der Vampir aus dem Weltall wiederkommt, um mir begierig das Blut aus den Adern zu saugen. Doch ich kann es nicht verhindern; die absolute Kraftlosigkeit verweigert es mir, meinem Peiniger zu entfliehen. Ich bin rettungslos verloren!

Nur noch wenige Stunden verbleiben mir bis zum Herniedersinken der unheilbringenden Nacht. Ich bin gezwungen zu warten. Ich harre des Todes.

© Manfred Wirth

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