Die Rache des Professor Hildbrechtstein
(Erzählung von Manfred Wirth)

 

Seit jenem unvorhersehbaren Schrecknis ist eine innere, schmerzhafte Wandlung in meinem Geist und Körper vorgegangen. Der unheilvolle Einfluß unerträglichen Todesgrauens hat meine Nerven angegriffen, mein Gemüt erschüttert, meinen Verstand verwirrt und meinen Leib geschwächt. Dennoch werde ich keine Mühe scheuen, von meinem Erlebten eine ausführliche und umfassende Darstellung zu geben. Das schauderhaft nachwirkende Geschehnis ereignete sich unlängst in einer abgelegenen, verhältnismäßig unbekannten, pfälzischen Ortschaft, die von einer Katastrophe mitleidlos heimgesucht worden war, einer Katastrophe, so furchtbar und entsetzlich, wie sie sich kein Sterblicher, auch nur im grausigsten Alptraume, vorzustellen gewagt hätte.

Das romantische Bauerndorf mit seinen ungefähr fünfhundert rechtschaffenen Einwohnern lag zwischen blauen, himmelanragenden Bergen und schattigen, unüberschaubaren Nadelwäldern in einer lieblichen, langgestreckten Talmulde eingebettet. Lediglich über ein schmales, holperiges Sträßchen konnte man die bescheidenen, schiefergedeckten Häuser erreichen. Doch dann brach ungeahnt fürchterliches Unheil über das dörfliche Idyll herein; unbezähmbare, überirdische Kräfte, die Dämone des Bösen, vernichteten schonungslos Mensch und Natur. Das große Sterben ging durch die einstmals so anmutige, so bezaubernde Landschaft.

Doch sei es mir gestattet, die unergründbaren, unnatürlichen Vorgänge - soweit ich dazu in der Lage bin - sorgfältig der Reihe nach zu schildern. Im Einwohnermeldeamt der häßlichen, übervölkerten Kreisstadt, wo man früher unter anderem auch die Personenkartei jenes Unglücksortes führte, war ich schon zwei Jahre tätig, als ich zum ersten mal sorgenvoll die rapide sinkende Einwohnerzahl des einsamen Dorfes beobachtete. Abgesehen davon, daß manche eingesessene und bislang heimatverbundene Bürger geradezu fluchtartig Haus und Hof im Stich ließen, waren hier frappierend häufige Sterbefälle zu verzeichnen. In angsterregender, unbegreiflicher Regelmäßigkeit wurde beinahe tagtäglich ein Dorfbewohner zu Grabe getragen. Wenn dieser untragbare Zustand in gleichbleibendem Maße andauert, so dachte ich besorgt, werden die verstreuten Bauernhöfe bald öde und verlassen daliegen und dem Verfall unweigerlich entgegengehen.

Das Einwohnermeldeamt, in dem ich, wie bereits erwähnt, seinerzeit beschäftigt war, befand sich im repräsentativen Rathaus der Kreisstadt. Im anstoßenden Zimmer hatte damals die Polizei ihren Sitz. Ich entsinne mich noch genau, als wäre alles erst gestern geschehen. Mein unvergeßlich grauenvolles Erlebnis begann an einem trostlosen, regnerischen Juninachmittag. In meinem Dienstzimmer stand ich erstmals dem Unheimlichen gegenüber; hier fand die allererste Begegnung mit dem Schrecklichen statt. Zwei Polizeibeamte waren gerade auf Streife unterwegs, als der diensthabende Wachtmeister unerwartet mein Büro betrat und mich höflichst bat, für eine knappe Viertelstunde sämtliche ankommenden Telefonate entgegenzunehmen, weil er von seinem Vorgesetzten zu einer wichtigen, unverschiebbaren Unterredung gerufen worden war.

Es mochte gegen sechzehn Uhr gewesen sein, als schrill das Telefon klingelte und mich brutal aus meinen ungereimten Gedankengängen aufrüttelte. Mir kam das durchdringliche, stillezerreißende Läuten - so unglaubhaft es hier auf dem Papier vielleicht erscheinen mag - unheimlich und drohend vor. Ein unbeschreibliches, noch nie gekanntes Angstempfinden schnürte mir die Kehle zu und zog mich gänzlich in seinen Bann, als ich mit zitternder Hand den Hörer abnahm und mein Ohr gespannt an die Muschel preßte. Am Ende der Leitung ertönte die unverwechselbar rauhe Grabesstimme des Bürgermeisters jener aussterbenden Ortschaft, über die ich in den letzten Tagen und Wochen des öfteren hatte nachdenken müssen. Doch wovon sprach er? Sein sonst so gewaltiges und dröhnendes Stimmorgan klang ungewohnt gedämpft und zu gebrochen, um es ausreichend verstehen zu können. Zudem wurde es mehrfach von einem eigentümlichen, störenden Knacken überlagert. Ich strengte mich unsagbar an, etwas von den verzerrten Silben, die nach kurzen Zwischenräumen stoßweise aus dem Telefonhörer schnarrten, zu vernehmen. Doch alles, was ich schließlich akustisch aufnahm, waren die schreckenerregenden Worte "Tod" und Verderben". Immer unartikulierter, immer mißtönender, immer röchelnder wurden die Laute, die an mein angestrengt lauschendes Ohr quollen. Bis ich starr vor Entsetzen anhören mußte, wie mein Gesprächspartner krächzend und gottserbärmlich, aber unmißverständlich um Hilfe rief. Und dann - o Graus - folgte ein undenkbar langgezogener, ohrenbetäubender und markerschütternder Schrei! Es war jenes gräßliche, graueneinflößende Brüllen, das heute noch fortwährend in meinen Ohren schmerzend widerhallt und nimmermehr verklingen will.

Von eiskaltem Schauder erfaßt, schleuderte ich den Telefonhörer auf die Gabel und stürzte blindlings auf den Gang hinaus, wo mir just in diesem Augenblick die beiden Polizisten, welche soeben von ihrem nachmittäglichen Streifenrundgang zurückgekehrt waren, begegneten. Ich erzählte ihnen aufgeregt von dem sonderbaren Anruf. Sofort versuchte ein Beamter, nochmals mit dem Gemeindeoberhaupt telefonisch in Verbindung zu treten. Es gelang ihm jedoch nicht, einen einwandfreien Kontakt herzustellen, weil anscheinend der Anschluß gestört war.

Da wir einstimmig die Meinung vertraten, daß etwas ungemein Grauenhaftes vorgefallen sein mußte, waren wir bemüht, über einen anderen Fernsprechteilnehmer den offenkundig in akuter Lebensgefahr schwebenden Anrufer zu erreichen. Im Telefonbuch vermochten wir trotz emsigen Suchens nur zwei weitere Anschlüsse zu ermitteln. Wir wählten die Nummer einer kleinen Lederwarenfabrik, doch hörte hier ärgerlicherweise niemand. Hinterher fragten wir noch beim Dorfrestaurant an. Dort war allem Anschein nach alles in bester Ordnung. Allein, der Gastwirt weigerte sich hartnäckig, den Bürgermeister an den Apparat zu beordern, da, wie er erklärte, das Gemeindehaus fast am entgegengesetzten Ortsende läge und ihm für den Hin- und Rückweg augenblicklich die nötige Zeit fehle.

Die Polizisten faßten den Entschluß, dem Hilferufer unverzüglich einen Besuch abzustatten und in der abgeschiedenen Siedlung nach dem Rechten zu sehen. Da sie aber durchaus zu zweit fahren wollten, ein Beamter hingegen äußerte, dringende, schriftliche Arbeiten erledigen zu müssen und außerdem der stationierte Wachtmeister noch nicht von der Besprechung zurückgekehrt war, bat ich, anstelle des zweiten Polizeibeamten mitkommen zu dürfen.

So holperten wir wenige Minuten später - nichts Gutes ahnend - auf dem löcherigen, mangelhaft asphaltierten Landsträßchen der geheimnisumwitterten Ortschaft entgegen. Obwohl ich schon etliche Jahre nicht mehr in dem entzückenden und friedlich-einsamen Tal gewesen war, hatte sich doch die wunderschöne, malerische Umgebung des Dorfes meinem Gedächtnis unauslöschlich eingeprägt: die hohen, ertragreichen Obstbäume auf saftigen, blumenübersäten Wiesenhängen, die weiten, fruchtbaren Korn- und Kartoffelfelder, die verschwiegenen, lilienumrahmten Weiher und - nicht zu vergessen - die grandiose, unvergleichliche Pracht der dunkelgrünen, schier unendlichen Fichten- und Tannenwälder, die sich über das sanftwellige Pfälzer Bergland bis zu den fernblauenden Höhenrücken ausdehnten. Mir leuchtete nicht ein, warum zahlreiche Familien in letzter Zeit ihre ansehnlichen, vom ruhelosen Treiben unserer Tage unberührter Gehöfte kurzerhand aufgegeben hatten und bedenkenlos in die lärmerfüllten Ballungszentren übergesiedelt waren. Lag der Beweggrund wirklich allein darin, daß die Gegend ausgesprochen entlegen, nicht bequem und nur unter größtem Zeitverlust erreichbar ist, oder sollte man doch den gespensterfürchtigen Talbewohnern Glauben schenken und ihren schauerlichen Geschichten, die sie sich untereinander zutragen, besondere Bedeutung beimessen?

Der bejahrte Polizeibeamte, der den klapperigen Streifenwagen unbeirrt durch die dünnbesiedelte Waldlandschaft steuerte, mußte meine verworrenen Gedankenspiele geahnt haben, denn er fragte mich ganz unvermittelt: "Was halten Sie von dem Gemunkel, das neuerdings in diesem gottverlassenen Nest umgeht?"

Ohne jedoch meine Antwort abzuwarten, redete er weiter: "Meines Erachtens haben hier höllische Mächte die Hand im Spiel. Ich weiß, wir leben im 20. Jahrhundert. Aber kennen Sie schon das aufsehenerregende Vorkommnis während der Bestattung des Professor Hildbrechtstein?"

Da ich nur ungenügend darüber informiert war und meine bisherigen Überlegungen hauptsächlich auf das zumeist unglaubwürdige, wenn nicht gar törichte Gerede klatschsüchtiger Leute beruhten, forderte ich den Fahrer auf, Details anzugeben und mich über den wahren Sachverhalt aufzuklären.

"Es ist schon über ein Jahr her, als der Eigenbrötler das Zeitliche segnete. Sein ganzes elendes Leben hindurch hauste der unbeliebte Sonderling in einer armseligen, schindelgedeckten Holzhütte am Ortsausgang, etwas abseits von der Zufahrtsstraße, direkt neben den stillgelegten Granitbrüchen. Die Einheimischen tuschelten, er hätte allerlei unsinnige Versuche angestellt, kühne, physikalische Experiments gewagt und das Geheimnis der Unsterblichkeit erforscht. Viele meinten, Hildbrechtstein habe es mit dem Teufel gehalten, in seiner Behausung hätten sich Hexen, Untote und sonstige Höllenwesen ein allnächtliches Stelldichein gegeben, und einige sind sogar noch heute felsenfest davon überzeugt, er sei der Satan selbst gewesen. Die baufällige Baracke und das benachbarte Steinbruchgelände wurden mehr und mehr als gruselige Spukstätte verschrieen und von den furchtsamen, abergläubischen Dorfbewohnern insbesondere nachts gemiedenen. Überdies will eine altjungferliche Bauernmagd angeblich beobachtet haben, wie sich der greise Mann in einer nebeligen Dezembernacht auf dem Gottesacker an einem ausgescharrten, halbverwesten Leichnam zu schaffen machte. Die verwirrte und verschreckte Friedhofsgängerin raunte den leichtgläubigen Ortsansässigen zu, daß es ausgesehen hätte, als ob der Professor mit roher Begierde und luziferischer Lust an den irdischen Resten zehren würde. In Windeseile verbreitete sich das üble Gerücht, daß Hildbrechtstein der Menschen Speise und Trank zutiefst verabscheute und sich überwiegend aus nächtigen Grabstätten seinen eklen Fraß hervorzerre. Doch dies ist unbewiesen und sicherlich bloß blödsinniges Geschwätz dummer, bornierter Dorfweiber."

Hier legte der Erzähler eine kurze Pause ein. Er schnaufte mehrmals geräuschvoll, dann fuhr er mit seinem schaudererregenden Bericht fort. "Nun, wie gesagt, im vorigen Jahr verstarb der menschenscheue Greis an einem bösartigen, schlimmer werdenden Gebrechen, mit dem er bereits seit dem ersten Weltkrieg behaftet war. Die sterbliche Hülle wurde wie üblich in der alten Leichenkapelle aufgebahrt. Einige Stunden vor der Beisetzung merkte der Friedhofswärter zu seiner tiefsten Bestürzung, daß dem Toten die Augen offenstanden. Daraufhin verschloß er hastig den Sarg und rannte, so schnell ihn seine Füße trugen, von dannen. Als am frühen Nachmittag die Trauerfeier abgehalten werden sollte, nahmen die wenigen Anwesenden wahr, daß sich der Sargdeckel merklich verschoben hatte. Noch einmal wurde der schwarze Totenschrein geöffnet, um nach dem Verstorbenen zu sehen. Da erkannten auch alle Versammelten die rotumränderten, blutunterlaufenen, weit aufgerissenen, starrglotzenden Augen. In dem spärlich beleuchteten Raum sahen obendrein die Gesichtszüge des Abgeschiedenen wahrhaftig zum Fürchten aus. Zuerst erweckte es zwar nur bei einigen Umherstehenden den Eindruck, als ob ein spöttisches Lächeln um die erkalteten Lippen läge; nach längerem, genaueren Betrachten aber konnte sich keiner mehr der Tatsache verschließen, daß der eingefallene Mund zu einem breiten, hämischen und verachtungsvollen Grinsen verzogen und das bleiche, abgezehrte Antlitz aufs gräßlichste entstellt war. Hals über Kopf flohen Sarg- und Kreuzträger aus der düsteren Totenhalle, wohingegen der beleibte Geistliche schwerfällig und verdattert hinterher schwankte. Die Verstörten stoben lautschreiend über den Friedhof, als ob sich der Leibhaftige an ihren Fersen geheftet hätte. Seit jenen horriblen Stunden waren sich die verängstigten Dorfbewohner darin einig, daß ein Fluch über ihrem Ort liege und wahrscheinlich deshalb wuchsen die Abwanderungszahlen sprunghaft an."

"Hier hat gewiß jemand einen unverschämt pietätlosen und makabren Streich verübt", entgegnete ich im Brustton der Überzeugung.

"Das haben wir seinerzeit zunächst auch erwogen", erwiderte der Uniformierte. "Doch Sie müssen bedenken, daß der Schlüssel zum Leichenhaus ausschließlich der Totengräber besaß. Es handelte sich um ein sehr kompliziertes Schloß. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gab es keinen anderen Schlüssel, der passen konnte. Am massiven Eingangsportal waren außerdem keine Spuren von Gewaltanwendung feststellbar. Das eherne Gitterwerk des einzigen und hochgelegenen Fensters war unbeschädigt. Wir fanden nicht die geringsten Hinweise, daß jemand unbemerkt in die Leichenhalle eingestiegen war. Überdies halte ich es für völlig ausgeschlossen, einem Toten die erstarrten Augenlider zu heben oder gar die Mundstellung zu verändern, ohne sichtliche Verletzungen zu hinterlassen."

"Ich hörte, es gibt im Dorf eine beängstigend große Anzahl von Todesfällen", warf ich ein.

"Ja, das stimmt. Seitdem der fanatische Professor von seinem kummervollen Dasein erlöst wurde, sterben viele Bürger, einige an Herzschlag, manche an Altersschwäche, die meisten aber unleugbar an den Folgen einer unergründlich körperlichen Ermattung oder Entkräftung und nervlichen Erschöpfung. Die Betreffenden bekommen jählings arge Schwindelanfälle, beginnen wie Betrunkene zu torkeln, verlieren oft mitten auf der Straße die Besinnung, stürzen unglücklich auf das Steinpflaster und enden auf grausame Art und Weise. Namhafte Fachärzte verfechten die Ansicht, es sei ein neuartiges, lebensgefährliches Nervenleiden, andere dagegen glauben mehr an eine ansteckende, noch unentdeckte Infektionskrankheit. Und wissen Sie schon das Neueste?", fragte mich der Wagenlenker.

Als ich verneinte, antwortete er: "Nun, warten Sie mal ab, gleich werden Sie es selbst sehen können!"

Mittlerweile hatten wir mit dem Streifenwagen fast unser Ziel erreicht. Zu unserer Rechten wich der hochstämmige, schattenwerfende Forst zurück. Hinter der nächsten Kurve mußten die schmucken, windgeschützten Häuser auftauchen. Unversehens war die Asphaltdecke zu Ende; die wenig befahrene, ohnedies ausbesserungsbedürftige Straße wurde steinig und beinahe unpassierbar. Beklemmende und beunruhigende Gefühle ergriffen mich, als die abseitigen Bauernhöfe langsam in unser Blickfeld rückten. Doch wußte ich im ersten Moment nicht, was es sein konnte, das mich ängstigte und bedrückte. Ich erinnerte mich, daß der Ort in früherer Zeit von unzähligen knorrigen, dickbelaubten Buchen und spiegelklaren, fischreichen Teichen umgeben war. Im Frühling hatten hier wundervoll die Apfelbäume geblüht. Die sauberen, sehenswerten Fachwerkhäuser waren alljährlich in ein märchenhaftes Meer von duftigen, rosigen Blüten gehüllt.

Mit jähem Erschrecken kam mir endlich zum Bewußtsein, was sich an diesem Landstrich verändert hatte. Es war anfangs Juni und die Obstbäume hätten zweifellos längst in ihrer herrlichsten Blüte stehen müssen. Doch sie blühten nicht. Sie trugen überhaupt keine Blätter, ja, sie hatten nicht einmal Knospen angesetzt. Äste und Zweige waren kahl, gespenstisch kahl und schwarz, tiefschwarz. Die Wiesen zeigten einen widerwärtig kotbraunen Schimmer und wirkten hoffnungslos verödet. Die kleinen, ehemals frischen und reinen Gewässer ähnelten grundlosen, jauchigen Morästen, die sich weit über die brachliegenden Felder erstreckten, ekelhaft grau und schockierend in ihrer absoluten Bewegungslosigkeit. Wie um alles in der Welt konnte so etwas möglich sein?

"Es muß in der Luft liegen oder am Boden. Vielleicht hat der sauere Regen daran schuld. Wer weiß?", murmelte der Polizist und zuckte mit den Achseln, nachdem ich ihn stotternd, betroffen von dem widerlichen Anblick, über die mutmaßlichen Ursachen jener teuflischen Verwandlung befragt hatte.

Inzwischen hatten wir die beschmutzte, fast unleserliche Ortstafel passiert. Gleich das zweite Gebäude unmittelbar an der Hauptstraße war das Gemeindehaus. Wegen seiner auffälligen Beschilderung konnte es wohl niemand übersehen. Der Polizeibeamte stoppte das Fahrzeug. Eilends stiegen wir aus. Ein penetranter, mit Fäulnis geschwängerter Geruch schlug uns entgegen. Bleigraue, bizarr geformte Rauch- oder Dunstschwaden, deren Ausgangspunkt wir nicht herauszufinden vermochten, umschwebten das Bauerndorf wie Gespensterwesen und verdüsterten den Schein der sommerlichen Nachmittagssonne. Eine deprimierende, friedhofsartige Stille lastete über den Häusern. Uns umhüllte eine Atmosphäre uneingeschränkter Trostlosigkeit. Wir lauschten intensiv in alle Richtungen. Fernab vernahmen wir nur das klagende Weinen eines Kindes.

Da die Türe zum Rathaus sich eigenartigerweise nicht öffnen ließ - sie war scheinbar versperrt - und auch unser minutenlanges, unausgesetztes Klingeln sich als nutzlos erwies, waren wir bereits im Begriffe, die Privatwohnung des Bürgermeisters ausfindig zu machen. Unverhofft erscholl in diesem Moment aus einem Erkerfenster des Nachbarhauses die piepsende Stimme einer hochbetagten, weißhaarigen Frau, die uns mitteilte, daß sich der Gesuchte unbedingt in seinen Arbeitsräumen aufhalten müsse. Die Greisin sah ihn, wie sie weiterhin angab, vor etwa einer Viertelstunde das Haus betreten und hätte, da sie die ganze Zeit hinter den Scheiben saß, auf alle Fälle bemerkt, wenn er wieder fortgegangen wäre.

"Dem Bürgermeister wird doch hoffentlich nichts Ernsthaftes zugestoßen sein", rief der Polizist voller Erregung aus. Gewaltsam stemmten wir uns gegen die getäfelte Rathaustüre, die jetzt anfänglich zwar nur langsam nachgab, sich aber letztlich ohne spürbares Hindernis öffnen ließ.

Schweigend traten wir ein und standen Sekunden später in einer geräumigen, fensterlosen, dumpfigen Diele. Da sich, wie wir kurz darauf feststellten, von der altmodischen, hölzernen Wandverkleidung eine etwa quadratmetergroße Fläche losgelöst und sich dieses ausgebrochene Stück gegen die Haustüre gepreßt hatte, war es verständlich, daß diese beim Öffnen klemmte und wir somit zu der irrigen Meinung gelangen mußten, sie sei abgeschlossen.

Die Türe zum Amtszimmer fanden wir nur angelehnt. Schon bevor wir eintraten, ahnte ich, daß in diesem Raume etwas Unfaßbares vorgegangen war. Mein Instinkt hatte mich nicht betrogen. Dem Polizisten entfuhr ein schriller Aufschrei. Leichenblaß erschaudernd, taumelte er zurück. Meine eigenen Gefühle beschreiben zu wollen, grenze an Tollheit. Hinter seinem Schreibtisch hockte leblos der Bürgermeister. Seine verquollenen Totenaugen schienen uns unverhohlen anzuschielen. Sein Gesicht war derart fratzenhaft verzerrt, daß es uns vor diesem Anblick grauste und wir, am ganzen Leibe schlotternd, in ein anderes Zimmer flüchteten.

Wir benachrichtigten sofort einen Arzt und den Kriminalkommissar aus der nahen Kreisstadt. Von quälender Unruhe erfüllt, erwarteten wir die Ankunft der beiden. Erst nach einer halben Stunde waren sie zur Stelle.

Der Heilkundige war ratlos; er vermochte nicht zu klären, was den plötzlichen Tod des Dorfbürgermeisters herbeigeführt haben könnte. "Wie bei den anderen", stammelte er niedergeschmettert."

Während sich der untersuchende Arzt noch fassungslos über den Entseelten beugte, ertönte draußen auf der engen Gasse hysterisches, ohrenzerreißendes Gekreische aus den Kehlen entsetzter Frauen. Erschrocken sprangen wir auf und stürzten zum Fenster. Ein eisiger Schauer überflutete uns, als wir einen Blick durch die trüben Scheiben warfen. Inmitten des Dorfsträßchens lag ein Mann mit grauenhaft klaffender Mundöffnung, aus der immerfort horrende Ströme dunkelroten Blutes flossen, die seine Kleidung über und über scheußlich besudelten und sich meterweit über das Kopfsteinpflaster ergossen. Nach unseren Mutmaßungen war der Unglückliche ohnmächtig zusammengebrochen und mit dem Haupt hart auf die Straßenpflästerung aufgeschlagen. Die Leute eilten teils lebhaft diskutierend, teils lauthals jammernd von allen Seiten herbei und einige gerieten in äußerste Verzweiflung. Eine Bäuerin gebärdete sich wie von Sinnen. Ohne Unterlaß stieß sie helle, durchdringende Schreckensschreie aus, die das Echo von den bewaldeten Bergwänden vielfach zurückwarf. Innerhalb einer Minute waren Hunderte von Menschen zusammengekommen, die entweder, stumm und unbewegt dastehend, verständnislos auf den Ausgebluteten glotzten, oder, heftig mit den Händen gestikulierend, wild durcheinanderschrieen. Das heillose Stimmengewirr wurde immer lärmender. Der urplötzlich entstandene Tumult schien in blinde, sinnlose Panik auszuarten.

"Wir müssen diesen Vorfall auf der Stelle den Behörden melden. Das gesamte Gebiet scheint verseucht zu sein. Sämtliche Einwohner müssen umgehend evakuiert werden", erklärte der Arzt beunruhigt.

Ein paar Stunden später wurde Großalarm gegeben. Die aufgebrachte Menschenmenge mußte schleunigst in das zuständige Kreiskrankenhaus oder aufgrund des dortigen Raummangels in weit entfernt liegende Kliniken zur sofortigen Untersuchung eingeliefert werden. Auch der Polizist und ich konnten nicht umhin, dieser Anordnung nachzukommen.

Die amtliche Entscheidung, daß jedermann zur genauesten Beobachtung für unbestimmte Zeit in einer Krankenanstalt verweilen müsse, erregte jedoch der Bevölkerung Unwillen. Eine Gruppe von etwa dreißig Jugendlichen war außer sich vor Zorn und randalierte. Erst das unnachsichtige Vorgehen der Polizei, die Tränengas und Wasserwerfer einsetzte, ermöglichte die Zerstreuung der Menschenansammlung und die Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung. Wegen der unglaublich starrköpfigen Haltung einiger Bauern und der dadurch verursachten Verzögerung konnte der festgesetzte Räumungstermin nicht eingehalten werden; es vergingen noch drei bis vier Tage, bis alle Dorfbewohner unter ärztlicher Aufsicht standen.

Die gewissenhaft durchgeführten Untersuchungen erbrachten jedoch keine nennenswerten Erkenntnisse; bei niemandem zeigten sich etwaige Erscheinungen einer gefährlichen Krankheit. Abgesehen von den alltäglichen Beschwerden und Unpäßlichkeiten war jeder wohlauf. Dennoch erließ die Gesundheitsbehörde den strikten Befehl, daß der Ortsbereich solange nicht mehr betreten werden dürfe, bis nähere Ermittlungen abgeschlossen werden können. Die Dorfbewohner wurden vorläufig in öffentlichen Gebäuden der Kreisstadt oder auch bei Verwandten und Freunden untergebracht.

In den darauffolgenden Wochen durchkämmten erfahrene Naturforscher und Wissenschaftler unentwegt das unfruchtbare Gelände, zwei Hubschrauber waren pausenlos unterwegs und auch die Kriminalpolizei hatte sich eingeschaltet. Trotz des unermüdlichen und aufopferungsvollen Einsatzes aller Beteiligten konnten keine Entdeckungen gemacht werden, die Licht in das Dunkel hätten bringen können.

Alle Bäume im Ort und in dessen engeren Umkreis waren bar jeglichen Grüns; sie trieben weder Blatt- noch Blütenknospen. Infolge des breiig-weichen, zunehmend morastiger werdenden Erdbodens bestand Gefahr, daß die Wurzeln verfaulten. Die Wasserläufe blieben ausnahmslos von absonderlich dunkelgrauer Farbe und gaben unangenehm stechende und giftige Gerüche von sich. Man untersuchte in den umliegenden Bezirken drei Quellen, da es nahelag, hier die mögliche Ursache der Bachverunreinigung zu vermuten. Aber aus der Erde sprudelte tadelloses, kristallklares Trinkwasser. Doch merkwürdig: je mehr sich die Rinnsale dem Dorfe näherten, desto undurchsichtiger, schlammiger und übelriechender wurden die Gewässer, während sie sich nur wenige Kilometer hinter der Ortschaft erstaunlicherweise wieder in normalem, einwandfreien Zustand zeigten. man überprüfte den Grundboden der verschmutzten Bäche, begutachtete das fließende Wasser an zahllosen Stellen und schickte Proben an Labors. Doch es blieb ein Rätsel, weshalb die Natur unabänderlich verdorben war.

In jenen Wochen grübelte ich abendverschwendend über den Ursprung der fortschreitenden Verheerungen. Dabei entsann ich mich, daß vor fast einem Jahr, wenige Tage nach dem schreckenvollen Begräbnis des berüchtigten Professors ein uraltes, gebrechliches Mütterchen mir unter vorgehaltener Hand zugeflüstert hatte, daß der gefürchtete Mann kurz vor seinem Hinscheiden auf Vergeltung gesonnen und den Ort verflucht hätte. Da ihn seine Mitbürger zeitlebens abgrundtief gehaßt und mit allen erdenklichen Mitteln versucht haben, seine erfolgreiche Arbeit zu unterbinden und sein Forschungswerk zu zerstören, wird die Stunde der Rache und Bestrafung bald kommen; sie sollen nicht lange leben und eines qualvollen Todes sterben.

Wenn es wirklich zutraf, so dachte ich bei mir, daß die mysteriösen Naturvorgänge, vor allem die kümmerliche, dahinsiechende Vegetation, der atembeklemmende, nicht mehr auszuhaltende Gestank, die fremdartigen und sichthemmenden Dunstschleier, die zuweilen wie ein weißes Leichentuch über der Gemarkung zusammenschlugen, sowie die überhandnehmenden Sterbefälle mit dem Ableben des Professors in Zusammenhang stehen, dann bedeutet dies wahrscheinlich erst den Anfang der Teufelei und die Folge der sich überstürzenden Schreckensereignisse wäre unabsehbar und geradezu katastrophal.

Die eingehenden Nachforschungen verliefen ergebnislos, worauf sich die Behörden gezwungen sahen, die aufwendige, großangelegte Aktion einzustellen. Daß die monatelangen Bemühungen um Klärung der Angelegenheit in jeder Hinsicht schmählich gescheitert waren, wurde von den maßgeblichen Stellen schamhaft verschwiegen. Die inländische Presse einigte sich, einen gleichlautenden, verschwindend kleinen Artikel hierüber zu bringen, in dem die Verwüstungen bagatellisiert und weitgehehendst verheimlicht werden sollten. Der Ort durfte vorerst wieder bewohnt werden. Da man die Sachlage als ungefährlich hingestellt hatte, kehrten die meisten Einwohner arglos in ihre Wohnungen zurück. Doch war es nicht gelungen, alle Bedenken zu zerstreuen, denn einige zogen es vor, einstweilen bei ihren Bekannten in den umliegenden Städten zu bleiben. Auch war die Zahl derjenigen, die ihrem Heimatort für immer den Rücken zuwendeten, nicht unbeträchtlich.

Die Bewohnerschaft behandelte in mühevoller Kleinarbeit Felder, Wiesen und Gärten mit speziellen, teueren Düngemitteln, die man zum größten Teil aus dem Ausland hatte kommen lassen. Dennoch blieben die Pflanzen krüppelhaft und erschreckend verkümmert. Das Ackerland war nach wie vor ertraglos und das Bachwasser aufgrund seiner schädlichen, krankmachenden Substanzen selbst für das Vieh untrinkbar. Trotz kostspieliger Reinigungsmaßnahmen konnte man nichts gegen die Verschlammung und Verschmutzung der einstigen stattlichen Karpfenteiche ausrichten; sie behielten verteufelte Ähnlichkeit mit traurigen, fauligriechenden Tümpeln, in den die Fische massenweise verendeten. Kein Wild zog mehr durch den toten, ausgedörrten Wald und jeglicher Vogelgesang war verstummt. Grabesstille herrschte über der Öde.

Das unerklärliche, furchtverbreitende Sterben schien jedoch nachzulassen. In der Woche nach der Wiederbewohnung des Ortes befaßte sich die Heimatzeitung nur noch mit einem einzigen Fall. Die Todesursache war nach den Meinungen und Berichten verschiedener Ärzte ein Nervenschock, der das Herz erlahmen ließ und das Gesicht des Dahingegangenen mit dem Ausdruck höchsten Schreckens zeichnete. Bei dem Todesopfer handelte es sich um einen stämmigen, kerngesunden Burschen, der zur späten Abendstunde unweit des Dorfwirtshauses aufgefunden worden war. Doch was er vor seinem jähen Ende gesehen hatte, das ihn derart in seelische Not versetzte und zu Boden sinken ließ, blieb freilich ungeklärt. Erwähnenswert ist hierbei die Aussage eines sechzehnjährigen Mädchens, das zur fraglichen Zeit in der Nähe des Sterbenden verweilt war. Die Nachtschwärmerin beharrte zäh auf der Behauptung, ein eigenartiges, höhnisches Gelächter vernommen zu haben, das ihr, obschon es unnatürlich und grauenerregend klang, irgendwie bekannt vorgekommen sei.

Doch dann nahte die verhängnisvolle Nacht, die mein Leben einschneidend verändert hatte und meine zukünftigen Stunden wohl immerzu vergällen wird. Niemals werde ich jenen schaudervollen, unheilschwangeren Augustabend vergessen können!

Es begann bereits leicht zu dämmern, als zwei gleichalterige, gutbefreundete, ehemalige Klassenkameraden, dies waren Jochen W., ein erfahrener, allseits bekannter Realschullehrer und Herbert N., der stellvertretende Geschäftsführer eines kleinen, jedoch aufstrebenden Textilunternehmens, mit mir das eintönige, graufarbene Häusermeer verließen, um bei einem ausgedehnten Spaziergang die milde, erquickende Spätsommerluft und die erfrischende Abendkühle zu genießen. Der leitende Angestellte hatte bis vor kurzem noch in dem fluchbelasteten Dorfe gewohnt; erst die außergewöhnlichen, alarmierenden Vorfälle hatten ihn veranlaßt, kurzentschlossen seinen Wohnsitz zu wechseln, ins Stadtgebiet zu ziehen und in einer Neubausiedlung mit seiner Gattin ein gemütliches, geschmackvoll eingerichtetes Heim zu gründen. Die Großstadtwohnung war für ihn fraglos bedeutend günstiger, zumal er auch hier seiner Beschäftigung nachging. Der Pädagoge wohnte gleichfalls in unserer Kreisstadt, doch waren ihm die weitauseinanderliegenden Bauernhäuser ebenso vertraut, denn er hatte früher mehrere Jahre in der Landschule unterrichtet.

Herbert, Jochen und ich mochten etwa drei oder vier Kilometer ziellos durch die heimatlichen, ruhevollen Hochwälder geschlendert sein, als ich auf den unseligen Einfall kam, wir könnten doch, da wir uns ohnehin schon meilenweit von unserem Ausgangspunkt entfernt haben, bis zu jenem unheimlichen Dorf gehen. Als ich meinen Vorschlag den anderen unterbreitete, waren sie sogleich einverstanden und wir marschierten, eine neue Richtung einschlagend, auf verschlungenen, weichbemoosten Pfaden bergab, während sich die dunkler werdenden Abendschatten mehr und mehr über dem Hügelland ausbreiteten und auf uns niedersenkten.

Wir waren nur wenige Schritte talwärts gegangen, als einer meiner Begleiter mit einemmale stutzte. "Komisch", sagte er, "an dieser Stelle müßten doch eigentlich die Lichter von den Dorfhäusern zu sehen sein!"

Zu unserem Befremden lag vor uns ein furchterweckend finsterer Wiesengrund, aus dem kein Laut drang. Unsere Vermutung, ein dichter Nebelschweif habe die Sicht erheblich behindert, schwand dahin, als wir mit grenzenloser Verwunderung den unbeleuchteten Ort im fahlen Scheine des aufgehenden, weißblendenden Erdtrabanten ausfindig machen konnten.

"Na und?", rief ich aus und tat so, als würde ich stoischen Gleichmut bewahren, um meine emporsteigenden Angstgefühle nicht zu verraten. "Sicher bloß ein kurzer Stromausfall!" Doch nahm ich selbst meine Äußerung nicht ernst. Ich fühlte instinktiv, daß hier ein schreckliches Unglück geschehen war und sich meine geheimen Vorahnungen verwirklicht hatten.

Auch meine Freunde mußten Schlimmstes befürchtet haben, denn ganz spontan schritten sie im beschleunigten Tempo den lichtlosen Häusern entgegen. Schon hatten wir jene Stelle erreicht, wo anstatt blättergeschmückter Laubbäume nur noch unansehnlich schwarze Monstren mit verdorrtem, blätterlosen Astwerk in starrer Unbewegtheit geisterhaft zum sternklaren Nachthimmel emporragten. Eindringlich fixierten wir die einzelnen Gehöfte. Keine lebende Seele war weit und breit zu finden. Sogar vor der Gastwirtschaft, die jetzt in der Ferne auftauchte, war es ungewöhnlich ruhig. Nirgends war eine Bewegung auszumachen. Kein einziger Ton unterbrach das brütende Schweigen der windstillen, bedrückend schwülen Spätsommernacht.

Wir liefen auf den nähesten Bauernhof zu, in dessen Nähe unser Fußweg in die Dorfstraße mündete. Daß die Eingangstüre zum Gutshaus trotz vorgerückter Stunde nicht versperrt war, wunderte uns. Mit ängstlich klopfenden Herzen gingen wir hinein. Erstickende, undurchdringliche Finsternis umgab uns. Stolpernd tasteten wir uns nach einem Lichtschalter, der uns aus der grimmen und vielleicht sogar gefahrvollen Düsterkeit hätte befreien können. Endlich, nach langem, schier endlosen Suchen hatten wir ihn gefunden. Die Deckenbeleuchtung strahlte auf und der Hausflur war in ein unvermutet grelles, blendendes Licht getaucht. Da wir bisher nur in völliger Dunkelheit hilflos umhergetappt waren, hatten sich unsere Augen an die abrupt einsetzende Lichtflut verständlicherweise noch nicht gewöhnt; unser Sehvermögen war durch die Blendung momentan stark beeinträchtigt. Mir kam aber vor, als ob gerade in dem Augenblick, als die altertümliche Lampe aufflammte, eine weiße, hagere Gestalt am oberen Treppengeländer vorbeigehuscht wäre, um sogleich in dahinterliegende Räumlichkeiten zu verschwinden. Kaum hatte ich meinen Begleitern von der gespensterhaften Erscheinung erzählt, rasten sie die steile Treppe zu der betreffenden Stelle hinauf; indes, sie entdeckten nichts.

Obwohl wir ungezählte Türen öffneten und neugierig in die ärmlichen Stuben spähten, trafen wir in dem mehrstöckigen und verwinkelten Gebäude niemanden an. Sämtliche Räume, die wir inspizierten, waren ungelüftet und unordentlich, die darin befindlichen Möbel veraltet, staubüberzogen und allem Anschein nach schon lange nicht mehr benutzt. Auch auf dem übrigen Gutshof bot sich uns das gleiche Jammerbild. Alles lag voller Unrat, der Jauchewagen war umgestürzt und ausgelaufen, die angrenzende Stallung vollkommen verdreckt und die Viehtränke zerborsten. Entgeistert starrte ich auf das wüste Durcheinander. Noch nie hatte ich ein landwirtschaftliches Anwesen in einem derart erbärmlichen und verwahrlosten Zustand gesehen. Es wäre sowohl unvernünftig als auch zwecklos gewesen, in diesem unsauberen, vermoderten Bauerngehöft noch länger nach einem menschlichen Wesen zu suchen. Angsterfüllt, nur dem anschwellenden Gefühl eines ahnungsvollen Grauens gehorchend, hasteten wir wieder hinaus auf die verlassene, nur vom Vollmond unzulänglich erhellten Dorfstraße.

In uns stieg die bange Frage auf, warum denn nirgendwo elektrisches Licht brannte und von den Dorfbewohnern jedes Lebenszeichen fehlte. Wenn unsere seelenaufwühlenden Überlegungen der Realität entsprachen und tatsächlich in der ganzen Ortschaft kein Lebender mehr weilte, was um Himmelswillen hatte sich hier zugetragen? Zu welchem Zeitpunkt ist das todbringende Desaster eingetreten? Noch am späten Nachmittag hatte ich selbst mit dem hiesigen Pfarrer geschäftlich telefoniert und ein Brauereifahrzeug war - wie ich zufällig in Erfahrung brachte - zur Mittagszeit in diesen verfluchten Ort gefahren. Jochen wußte außerdem zu berichten, daß vor wenigen Stunden ein Arzt zu einer erkrankten Schülerin ins Dorf gerufen worden war. Dieser hätte nach seiner baldigen Rückkehr gemeldet, seine junge Patentin habe einen eleptischen Anfall erlitten, ihn aber gottlob überstanden; ihr Gesundheitszustand sei jetzt nicht mehr besorgniserregend.

Während wir uns unbegründeten Erwägungen hingaben und manch andere absurde Gedanken aufgriffen, jagten wir die gewundene Ortsstraße entlang. Aus einem sperrangelweit offenen Parterrefenster der Dorfschenke hörten wir ein ständiges, rätselhaftes Plätschern und Rauschen, wodurch unsere überspannten Angstvorstellungen neuen Auftrieb fanden. All unseren Mut zusammennehmend, keuchten wir atemlos die ausgetretenen Eingangsstufen empor. Ich stieß schwungvoll die Außentüre auf, die sich lautquietschend nach innen öffnete und infolge meines Ungestüms mit unerhörter Wucht und mächtigem, echoenden Getöse an die steinerne Hausflurwand krachte. Im stockfinsteren Vorraum über abgestellte Bierkästen stolpernd, suchten wir die Gaststube; wir hofften, wenigstens dort einem lebenden Menschen zu begegnen. Als wir auch diese Türe ungeduldig aufgerissen und nach mühsamen Umhertasten den Lichtschalter erreicht und angeknipst hatten, prallten wir, von Entsetzen geschüttelt, zurück.

Auf das Schreckbild, das sich uns im gedämpften Schein zierlicher Wandlampen darbot, hätte unmöglich eine Menschenseele gefaßt sein können! Über dem Tresen lehnte rücklings der Gastwirt. Seine Glieder waren hochgradig verrenkt, der Hals offensichtlich gebrochen. Das leichengraue, aufgeschwemmte Gesicht mit den verdrehten, zur Decke emporstierenden Augen glich einer dämonischen, abscheuerweckenden Fratze. Die steifen Totenfinger umklammerten den Bierhahn, aus dem verblüffenderweise immer noch in einem ziemlich kräftigen Strahl der goldbraune Gerstensaft herausschoß, unaufhörlich zischend und unaufhaltbar auf dem Parkettboden dahinströmend. Da wurde ich erst gewahr, daß ringsum alles überschwemmt war und wir nahezu bis an die Knöchel in der schäumenden Flüssigkeit standen.

An einem runden Tisch kauerte vor seinem umgefallenen und ausgelaufenen Trinkkrug ein ältlicher, fettleibiger und kahlköpfiger Gast, der betrunken und zu schlafen schien. Als wir ihn vorsichtig anfaßten, fiel er mit lautem, dumpfen Gepolter vom Stuhl und klatschte unvermeidlich in die Bierlachen, die beim Sturze hochaufspritzten und sich mit den ungeheueren Blutmengen, die aus einer zentimeterlangen Wunde seines aufgeplatzten Hinterkopfes hervorquollen, zu einer klebrigen, ekelerregenden, schleimig aussehenden Brühe vermischten. Das schmutzverschmierte, von Blut und Bier triefende Antlitz des Unseligen war von Todesangst und fürchterlichster Seelenqual gebrandmarkt. Erst jetzt begriffen wir, daß auch er seinen Geist längst aufgegeben hatte. Vor Schreck wie betäubt, verharrten wir reglos zwischen den beiden verunstalteten Leichen und wagten nicht, uns von der Stelle zu rühren.

Plötzlich war uns, als ob jemand draußen hell aufgelacht hätte. Zunächst nahmen wir an, einer Sinnestäuschung unterliegen zu sein. Auch hielten wir es für denkbar, daß ein vorbeifliegender Vogel jene wiehernden Laute ausgestoßen haben könnte. Dennoch horchten wir angespannt, hörten aber nur die monotonen Geräusche, welche der Vorbote eines heraufziehenden Gewittersturmes verursachte. Schließlich redeten wir uns ein, daß, hätte tatsächlich jemand auf der Straße gelacht, der Schall bestimmt im lauter werdenden Geklapper windbewegter Fensterläden untergegangen wäre. Ich trug mich eben mit der Absicht, zum Telefonhörer zu greifen, um die Polizei zu alarmieren und sie von dem grausigen Geschehen in Kenntnis zu setzen, als wiederum der seltsame Heiterkeitsausbruch hörbar wurde. Sollte es doch noch einen Überlebenden geben? War es ein Wahnsinniger, der sich an dem entsetzenerregenden Massensterben höchlichst ergötzte und über das tragische Geschick seiner Mitmenschen unbändig frohlockte?

Auf einmal überkamen mich die bösesten Befürchtungen. Indem mich verschiedenartige, nicht zu verbergende Empfindungen bestürmten und in mir ein großes Unbehagen auslösten, beklemmten die widersprüchlichsten Todesahnungen mein Herz. Mit einem Schlage wurde ich von unnennbar abwegigen Vorstellungen geplagt, die ich nicht zu verscheuchen vermochte. Ich bebte dermaßen vor Angst, daß mir der Hörer aus der Hand glitt und zu meinen Füßen zerbrach. Obwohl mich eine innere, warnende Stimme wissen ließ, daß ich auf der Straße den Tod ins Auge sehen werde, vermochte ich meine Freunde nicht zu hindern, die Wirtshausstube zu verlassen, vielmehr folgte ich ihnen zaudernd. An der Türschwelle blieben wir aber bewegungslos stehen, um voller Furchtsamkeit und Anspannung irgendwelchen leisen, geheimnisvollen Tönen zu lauschen, die aus weiter, unbestimmbarer Entfernung an unsere Ohren drangen.

Ein schneidender und böiger Wind pfiff über die Dächer hinweg und rüttelte nimmermüde an den mürben, schmutziggrauen Schiefem. Es knackte und knisterte, ächzte und stöhnte in dem jahrhundertealten, wurmstichigen Gebälk, als ob eine Horde wildgewordener Teufel in den Dachstühlen einen Höllentanz aufführen würden. Am westlichen Horizont braute sich ein schweres Gewitter zusammen. Hochaufgetürmte Wolkenberge bedeckten Mond und Sterne. Die unerleuchteten Häuser, die sich silhouettenhaft vom verfinsternden Nachthimmel abhoben, kamen uns wahrlich nicht geheuer vor; ihre pechschwarzen Tür- und Fensteröffnungen schienen eine Andeutung des Grausigen zu enthüllen. Gegenüber der menschenleeren Straße erkannten wir eine niedrige, altersschwache Scheune, deren morschen Türflügeln vom scharfen Südwestwind kreischend und knarrend auf- und zugeworfen wurden. Das immerwährende Lärmen zerrte an unseren Nerven. Deshalb atmeten wir erleichtert auf, als bei einem machtvollen Windstoß das breite Holztor mit derartiger Gewalt gegen die Scheunenwand schlug, daß es vollends zerschmetterte. Nicht allzuweit vom besagten Schober entfernt, erspähten wir die marmornen Gedenksteine des nachtschwarzen Totenackers, die in der unterschiedlichen Helle des fernen Wetterleuchtens schaurig glänzten. Unverwandt schauten wir auf die enggeschlossenen Grabreihen, ohne eigentlich dieses Verhalten hinreichend begründen zu können. Da vernahmen wir abermals diesmal unüberhörbar und unabstreitbar aus unserer Blickrichtung ein spukhaftes, weithin hallendes Hohngelächter.

Wir überquerten die schlechtgepflasterte Straße und befanden uns nach ein paar Schritten vor der mannshohen, wildwachsenden Umfriedungshecke. Es gab fürwahr keinen Zweifel mehr: von Zeit zu Zeit schaute ein furchteinflößendes, deutlich vernehmbares Lachen aus dem Friedhof, das unser Blut erstarren und unsere Haare zu Berge stehen ließ.

Der entfesselte Sturmwind tobte und orgelte unheilverkündend in den zerzausten Wipfeln der verkrümmten, altersgebeugten Lebensbäume, als wir auf dem matschigen Vorplatz, wenige Meter vor dem Kirchhofeingang, schaudernd innehielten und unablässig in das Innere des geheimnisbergenden Leichenackers äugten. Mit rasendem Schwung sprangen die wütenden Böen über die Gräber, stießen kleinere Kreuze um, schüttelten Büsche und Friedhofshecken. Die sturmgepeitschten Sträucher gaben der gottverlassenen Begräbnisstätte zweifelsohne ein schauererregendes Aussehen. Es wollte uns bedünken, daß wir uns in einem herzbeklemmenden Angsttraum befänden, vor allem deswegen, weil wir hin und wieder ein schemenhaftes, undefinierbares Gebilde wahrzunehmen glaubten, das sich zwischen dem durcheinandergeschüttelten Buschwerk und den mattschimmernden Marmorsteinen bewegte. Hatten wir unsere Einbildungskraft schon dermaßen aufgepeitscht, daß uns solche alptraumhaften Visionen zu martern vermochten? Nicht lange jedoch währte unsere Ungewißheit. Als gleich hernach auf der schnurgeraden, von schiefgewachsenen Eiben eingesäumten Allee ein weißgewandetes, geräuschlos dahinhuschendes Etwas erkennbar wurde, das nur dem Schattenreich entschlüpft sein konnte, wußten wir, daß wir weder geträumt noch Halluzinationen uns genarrt hatten. Nachdem wir das Höllenwesen in unüberbietbarer Deutlichkeit sahen, wurde uns die harte, entsetzensvolle Wirklichkeit offenbar: aus der Friedhofspforte wankte eine riesige, knochige Gestalt! Wir brachen in ein jämmerliches, verzweiflungsvolles Geschrei aus, denn wir hatten die abscheuliche, nachtgeborene Kreatur im zuckenden Feuerschein entfernter Blitze sofort erkannt: es war Professor Hildbrechtstein im wehenden Leichengewande, der, sardonisch lachend, unaufhaltsam auf uns zuschritt.

Als wir uns der ganzen Tragweite dieser unirdischen Bedrohung voll bewußt wurden, packte uns das kalte Grausen. Wir flehten den Allmächtigen um Beistand an, schöpften die schwache Hoffnung, daß die Todesfurcht, die sich unser bemächtigt hatte, uns Flügel verleihen möge, um dem verderbenbringenden Zugriff des mordlüsternen Ungeheuers zu entrinnen. Indes, der Himmel grollte, er entsendete feurige Schlangenblitze und kannte kein Erbarmen. Das nackte Entsetzen hatte uns gnadenlos umkrallt und mit derartiger Unerbittlichkeit auf unseren Plätzen festgebannt, daß wir außerstande waren, ein Glied zu regen. Dick rann uns der Angstschweiß von der Stirn. Wir bangten um unser Leben. Vor mir standen meine Begleiter in statuenhafter Reglosigkeit, gleichsam als ob ihre Sterbensangst sie zu grotesken, karikaturähnlichen Figuren versteinert hätte. Mit dürren, zielbewußt ausgestreckten Armen schritt das greuliche Gespenst auf die Erbarmungswürdigen zu, die wie angewurzelt in ihrer steifen Haltung verblieben. Schon umflatterte sie das moderbefleckte Gewand, umwehte sie erstarrender Grabeshauch. Ihr klägliches, winselndes Schreien half ihnen nichts. Schlagartig brachen ihre Jammerlaute ab; lautlos fielen sie in den braunen, knöcheltiefen Matsch. Jetzt stand ich allein dem unmenschlichen Scheusal Aug' in Aug' gegenüber. Das Teufelsgeschöpf grinste so diabolisch und schnitt derart abstoßende, abscheuerregende Grimassen, daß ich vermeinte, angesichts dieses Schauerbildes einem Herzschlag erliegen zu müssen.

Da wurde ich jedoch etwas höchst Seltsames inne und ich fand keine andere Erklärung, als daß es sich bei der teufelhaften Spukerscheinung um ein unwirkliches, substanzloses Phänomen handeln müsse. Ich konnte nämlich durch ihren Körper hindurchschauen, erblickte wie durch einen leichten Nebel die windschiefen Grabsteine und die primitiven Holzkreuze. Diese Wahrnehmung verführte mich zwangsläufig zu der Annahme, daß meine Freunde gar nicht ums Leben gekommen sein konnten, sondern nur im Übermaß lähmenden Todesschreckens besinnungslos niedergesunken waren. In meiner beispiellosen Verblendung bildete ich mir ein, ich brauche den unkörperlichen Schemen nicht zu fürchten.

"Gott, steh' mir bei!", brüllte ich, den Blick zum Gewitterhimmel richtend, mit einer Donnerstimme, die selbst das lauteste Sturmesbrausen übertönte, als das Schreckgespenst mir bedrohlich näherrückte. Der Mißgestalt zuwendend, rief ich zornerfüllt aus: "Bestie! Wenn du tot bist, dann ins Grab mit dir, bist du aber bis in alle Ewigkeit verdammt, dann fahre zur Hölle! Bei Gott! Ich scheue nicht vor dir zurück! Du kannst mir nichts anhaben!"

Wie konnte ich so unverständig, so uneinsichtig sein, daß ich wähnte, die Nächte der Finsternis vermögen, auch wenn sie nur als durchsichtige, immaterielle Erscheinungen auftreten, mir kein Leid zuzufügen?! Wie konnte ich so einfältig, so geistig beschränkt sein, daß ich, vertrauensselig auf eine schützende Hand hoffend, den Herrgott zu Hilfe rief, jenen sogenannten Allerbarmer, dessen Existenz sehr fraglich und unbewiesen ist? Beabsichtigte ich damit die dunklen Nächte zu überlisten, jene Nächte, die schon von altersher unbezwungen unseren Erdball beherrschen und unumstritten über die leidende Menschheit ihre Zepter schwingen?!

Doch dann gewahrte ich meine Freunde. Sie waren unrettbar verloren. Entseelt! Mit angstverzerrten, leichenfahlen, nicht wiederzuerkennenden Gesichtszügen lagen sie in den schmutzigen Pfützen. Als ich die Gewißheit erlangte, daß ich genauso jammervoll und elendiglich hinsterben würde, dämmerte es mir auf, in welch' unsäglicher Todesgefahr ich schwebte. Schmerzvoll durchzuckte mich die Erkenntnis der unaussprechlichen Gräßlichkeit dieses Höllenspukes, wie glühendes Eisen brannte sie sich in meinem Gehirn ein. O Grauen! O unermeßliches, unverhülltes Grauen!

Wie von tausend Teufeln gehetzt, stürmte ich dorfauswärts, ununterbrochen gellende Angstschreie ausstoßend. Mit weitausholenden Sätzen flog ich über die abgestorbenen, nachtdunklen Fluren, unfähig, einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Welche Stimme vermag dies auszuplaudern? Welche Sprache besitzt die Worte, um die Greuel und Entsetzlichkeiten jener Stunden in ihren Einzelheiten zu schildern und schriftlich festzuhalten?

Natürlich wurde meine Geschichte, die ich hiermit in einer Nervenheilanstalt zu Papier gebracht habe, von niemandem geglaubt. Unverblümt sagte man mir ins Gesicht, daß die Nacht des Wahnsinns über mich hereingebrochen sei. Ungeachtet meiner tausendfachen Beteuerungen, daß ich nichts anderes als die lautere Wahrheit niedergeschrieben habe, wurde mein Erlebnisbericht einfach als "Ausgeburt einer krankhaften, ungezügelten Phantasie" bezeichnet. In einer führenden Tageszeitung habe ich kürzlich gelesen, daß eine Epidemie im Dorf erbarmungslos gewütet hatte, bei der über zweihundert Menschen den Tod fanden. Doch ich allein weiß, daß es keine Seuche im herkömmlichen Sinne war. Professor Hildbrechtstein hat tödliche Rache genommen. Ich habe gesehen, wie er Böses mit Bösem vergolten hat. Ich war der einzige, überlebende Zeuge des grausen, unbarmherzigen Mordens.

© Manfred Wirth

zurück zur Startseite