Freunde der Nacht

(Erzählung von Manfred Wirth)

 

An einem trüben, viele Jahre zurückliegenden Sonntag, an dem ich mich aus bloßer Langeweile in eine verrufene Vorstadtkneipe setzte, um in Gesellschaft von ordinären Saufbolden einige Liter gewöhnlichen Bieres zu verkonsumieren, befreundete ich mich mit einem dortigen Stammgast, einem unnatürlich blaß aussehenden Burschen mit mädchenhaft langen, flachsblonden Haaren, der ungefähr fünfundzwanzig Jahre alt gewesen sein mochte. Obwohl er, nach seinem Äußeren zu urteilen, nicht sehr anziehend wirkte und auf mich keinen guten Eindruck machte, entwickelte sich zwischen uns ein zwangloses, munteres Gespräch. Wir redeten über bedeutende Ereignisse in unserem Schwarzwaldstädtchen, über eigentümliche Angewohnheiten unserer wenigen gemeinsamen Bekannten, sowie über unwesentliche und völlig belanglose Dinge. Im Verlaufe unseres stundenlangen Geplauders konstatierte ich mit zunehmender Verwunderung, daß mein Gegenüber zwar boshaft über angesehene und ehrenwerte Bürger unserer Stadt lästerte, jedoch auffallend wenig von sich und seiner Familie erzählte. Alle diesbezüglichen Fragen wich er ans, indem er geschickt das Gesprächsthema in andere Richtungen lenkte. Da er sich einer gewählten und äußerst vornehmen Ausdrucksweise befleißigte, lag der Gedanke nicht fern, daß er aus gutem Hause stamme und nur durch eine Verkettung unglücklicher Umstände moralisch so tief gesunken war, um nahezu jeden Abend in einer der übelsten Spelunken des Städtchens verkehren zu müssen und hier mehr und mehr zu versumpfen. Vor allem ließ mich sein ausländischer Tonfall aufhorchen. Nach genauem Hinhören vernahm ich, daß er das Deutsche mit einem unverkennbar ungarischen Akzent sprach. Außerdem fand ich bald heraus, daß er sich in dieser verräucherten Kaschemme gar nicht wohlfühlte, ja, überhaupt nicht in dieses Milieu paßte. Aus einiger seiner vagen Andeutungen, dem ständig umflorten Blick und der finsteren Leichenbittermiene schloß ich, daß er nur scheinbar die Geselligkeit liebte und seine Vergnügtheit lediglich vorspiegelte, in Wirklichkeit jedoch jeglichen ernsthaften Kontakt zu seinen Mitmenschen verloren hatte, gänzlich vereinsamt und von tiefer, niederdrückender Traurigkeit erfüllt war. Als ich ihn daraufhin dementsprechend anredete, bestätigten sich meine Vermutungen. Ohne längere Umschweife schilderte mein Zechgenosse, daß er, obschon er regelmäßiger Kneipenbesucher sei und es dieserhalb vielleicht unglaubhaft klinge, den Umgang mit anderen Menschen meide und die stille Einsamkeit suche. Diese Misanthropie hätte ihn dazu bewogen, sein Haus nicht im Stadtbereich, sondern in einem entlegenen Landstrich, vier bis fünf Meilen von hier entfernt, errichten zu lassen. Mehrmals betonte er, daß er nichts auf der Welt mehr schätze als das Alleinsein. Meine erstaunte Frage, wieso er sich trotzdem allabendlich in diesem menschenvollen Lokal aufhielt, überhörte er geflissentlich. Dagegen berichtete er mit pedantischer Ausführlichkeit von seinem prächtigen, villenartigen Wohngebäude, das nach seinen Worten auf einer idyllischen Lichtung, inmitten den Höllentalwäldern, stand, wo er, umgeben von immerwährenden Tannengrün und völliger Abgeschiedenheit, ein geruhsames und halbwegs unbeschwertes Leben führte. Aufgrund seiner detaillierten und farbigen Darstellung nahm ich an, daß er eine überaus komfortable und geschmackvoll eingerichtete Wohnung sein eigen nennen werde. Mich durchdrang die Überzeugung, daß er sehr vermögend und mit Glücksgütern gesegnet sein müsse. Kurz bevor wir uns verabschiedeten, versicherte er mir, daß er mich in seinem Heim als einen gerngesehenen Gast begrüßen würde. So gab ich ihm mein Versprechen, ihn bei nächstbester Gelegenheit zu besuchen. Während unserer vielseitigen Plauderei war die Zeit wie im Flug vergangen; als ich, vom ungewohnten Biergenuß leicht angeheitert, die rauchige Kneipe verließ, graute im Osten der Morgen.

Ich hätte die freundliche Einladung meines Mitzechers beinahe vergessen, wenn ich nicht zufällig einige Wochen danach bei einem ausgedehnten Nachmittagsspaziergang in die mir so ausführlich geschilderte Waldlichtung gelangt wäre. Angespannt spähte ich in alle Himmelsrichtungen, vermochte jedoch kein Gebäude auszumachen, auf das die bildhafte Beschreibung meines Freundes zugetroffen hätte. Als ich aber kurz darauf, anstatt der erwarteten ansehnlichen Villa, ein unscheinbares, windschiefes Häuschen erblickte, das jede Sekunde einzustürzen drohte und in der malerischen Schwarzwaldlandschaft ein wahrer Dorn im Auge war, stand ich wie vom Donner gerührt. Mir wurde offenbar, daß der Reichtum des Einsiedlers nur in seiner krankhaften Einbildung bestanden hatte, in Wirklichkeit er sich aber seiner Armut hätte schämen müssen. Während meines kurzbefristeten Aufenthaltes in der jämmerlichen Bruchbude hörte ich mit wachsender Besorgnis seinen maßlosen Aufschneidereien zu. Unter anderem flunkerte er mir vor, daß drei- bis viermal in der Woche aus den umliegenden Städten junge Leute "in hellen Scharen" kommen und ihn aufsuchen, um (ich gebe sein Gesagtes wortwörtlich wieder) "im nebenanliegenden Salon" zu einem fröhlichen Plausch zusammenzusitzen. Nachdem ich die armselige Eremitenklause von außen und innen angesehen hatte, zweifelte ich allen Ernstes am Verstand des Sonderlings, der nicht müde wurde, mir neue, faustdicke Lügen aufzutischen und gar nicht merkte, daß ich seine ausgeschmückten Münchhausiaden als Ergüsse eines kranken Hirns betrachtete. Bei allen seinen Äußerungen hörte man eindeutig heraus, daß er das weibliche Geschlecht nicht sonderlich mochte, ja, um bei der Realität zu bleiben, sogar einen giftigen Haß gegen dieses heute, was vermutlich darauf zurückzuführen war, daß die Frauen, bekanntlich nur auf die Wohlhabenheit der Männer achtend, mit Verachtung auf den mittellosen Jüngling herabsahen.

Zu meiner Verblüffung erfuhr ich einige Monate nach dieser Begegnung, daß die besagte Hütte in der Tat oftmals von einer großen Gesellschaft belegt sei. Es kam das Geraune auf, daß sogenannte "wilde Parties" dort veranstaltet werden, die jedesmal bis zum fahlen Morgengrauen andauern sollten. Man munkelte obendrein von alkoholischen und sexuellen Exzessen. Da ich wußte, daß mein einstiger Zechkumpan ein eingefleischter Junggeselle, oder besser ausgedrückt, ein unveränderlicher Frauenfeind war, hielt ich das stetige Getuschel für vollkommen absurd. Mitleidig belächelte ich die Tratschweiber unserer Nachbarschaft, die dem armen Mann sogar nachsagten, daß er diese vorgeblich äußerst orgienhaften Veranstaltungen nur deswegen abhalten würde, um hierbei eine "Frau fürs Leben" zu finden.

Mir leuchtete nicht ein, daß es die finanzielle Situation dem Habenichts überhaupt erlaubte, solch aufwendigen Feste zu feiern. Als ich an einem Sommerabend spaßeshalber mit meines Vaters Wagen in die Nähe seiner Bretterhütte fuhr, mußte ich feststellen, daß die Aussagen mancher Leute wenigstens teilweise der Wahrheit entsprachen. Plärrende, mißtönende Stimmungslieder störten die friedliche Waldesruhe und muteten infolge ungewöhnlichen Halleffektes wie improvisierte Grabgesänge an. Ich betrat jedoch das Haus nicht, weil mir derart fragwürdige Vergnügungen bisher keine rechte Freude bereitet hatten. Zwar konnte ich hinter den verschmutzten Fensterscheiben nicht erkennen, was auf hemmungslose Ausschweifungen hingewiesen hatte; doch war fraglos ein wüstes Saufgelage entstanden, das ich im höchsten Grade widerlich empfand. Mir schauderte, als die versoffenen Stimmen zu grölen einsetzten. Überdies erspähte ich in der Türöffnung mehrere zwielichtige Gestalten, darunter auch solche, die wegen abscheulicher Verbrechen im Gefängnis gesessen hatten oder nach meiner Meinung längst dorthin gehörten.

Nach diesem nächtlichen Besuch kümmerte ich mich jahrelang nicht um den rätselhaften Gesellen. Auch war ich in dieser Zeit nicht mehr in jener Waldung gewesen.

Anfang voriger Woche war ich überraschenderweise aufs neue von dem gastfreundlichen Partygeber zu einem derartigen Umtrunk eingeladen worden, sagte aber aus den bereits vorgebrachten Gründen ab. Das Hauptmotiv für meine schroffe Ablehnung waren jedoch die unerhörten Gerüchte, die im verstärkten Maße an meine Ohren gedrungen waren und mir bisweilen einen eiskalten Schauder eingejagt hatten.

Mein Wohnungsnachbar, ein rechtschaffener Holzfäller, der sich vorgestern Abend erheblich verspätet und zu vorgerückter Stunde in unmittelbarer Nahe des ärmlichen Hauses aufgehalten hatte, kam zu nachtschlafender Zeit atemlos in mein Zimmer gestürzt und verkündete schreckensbleich, er habe ein splitterfasernacktes Mädchen am offenen Hüttenfenster stehen gesehen, welches "von Blut nur so triefte". Die Unbekleidete hätte sich wie eine Verrückte aufgeführt, indem sie ununterbrochen den Vollmond angestarrt und jaulende Hundelaute von sich gegeben habe. Ich erläuterte dem verstörten Eindringling, daß er infolge der rotfunzeligen Partybeleuchtung höchstwahrscheinlich einer Sinnestäuschung unterlegen sei und versuchte ihn zu beruhigen. Auch machte ich ihn mit der unleugbaren Tatsache bekannt, daß es mitunter Schlagermusik gibt, die mit einem hundeartigen Gejaule ohne weiteres zu vergleichen ist. Was die angebliche Verrücktheit der jungen Dame anbelangte, erklärte ich ihm, ist es durchaus denkbar, daß sie entweder wegen der schrägen Musik in Ekstase geraten sei oder aufgrund starken Alkoholeinflusses jenes seltsame Wesen an den Tag gelegt habe.

Meine Bemühungen, den Waldarbeiter von seinen schauerlichen Hirngespinsten abzubringen, scheiterten kläglich. Mit einer besorgniserregenden Hartnäckigkeit beharrte er auf seiner Behauptung und es wollte mir nicht gelingen, seine abwegigen Fiktionen zu zerstreuen. Um den Gespensterseher davon zu überzeugen, daß er sich das Ganze nur eingebildet habe, schlug ich ihm vor, doch selbst einmal auf eine dieser stimmungsvollen Parties zu gehen, um so nach dem Rechten zu sehen.

Ich hätte mir denken können, daß der Mann meinem Vorschlag nicht zustimmen werde. Doch daß er sich daraufhin wie ein Wahnsinniger oder Irrenhäusler gebärden würde, hätte ich mir nicht träumen lassen. Mit rauher, brüchiger Grabesstimme stieß er derbe Flüche gegen meinen Freund aus und gebrauchte Schimpfnamen wie "Unmensch", "Blutsauger" und "Ungeheuer". Auch nannte unanständige Ausdrücke, mit denen ich jedoch das vor mir liegende Papier nicht besudeln möchte. Sein närrisches Benehmen brachte mich sofort zu der Überzeugung, daß die harmlose Trugwahrnehmung ihn um den Verstand gebracht hatte. So wies ich den Schreienden energisch aus meiner Wohnung und verbat ihm, dieselbe jemals wieder zu betreten.

Das befremdliche Auftreten meines Nachbars hatte mich jedoch einigermaßen alarmiert oder zumindest unerwartet meine Neugierde geweckt. Obgleich ich seinen Schilderungen keinen Glauben schenkte und seine Beobachtungen für Phantastereien hielt, trug ich mich auf einmal mit dem Verlangen, näheres über den Hergang dieser regelmäßig stattfindenden Privatfeiern zu erfahren. Ich faßte den Entschluß, den nächsten Abend in der fraglichen Hütte zu verbringen. Nur auf diese Weise konnte ich mich schließlich über den Ablauf der vermeintlichen Orgien informieren. Noch zur selben Stunde setzte ich meinen festefeiernden Freund, den ich erwartungsgemäß in seinem berüchtigten Stammlokal antraf, von meinem Kommen in Kenntnis. Meine persönliche Nachricht überraschte ihn sichtlich. Als ich beiläufig erwähnte, daß ich wahrscheinlich meine Verlobte mitbringen würde, geriet er sogar in Begeisterung - freilich, in bemerkenswerte und nachdenklich stimmende Begeisterung ...

Der darauffolgende Tag war der unheilvollste in meinem ganzen Leben. In den frühesten Morgenstunden wurde ich durch ohrenbetäubenden Sirenenalarm aus meinen süßen Träumen gerissen. Langgezogene und markerschütternde Hilfeschreie gellten durchs Haus. Die schwieligen Hände eines Feuerwehrmanns zerrten mich von meinem Lager. Infolge haarsträubender Leichtsinnigkeit hatte meine Großmutter einen Zimmerbrand verursacht, bei dem ein Schaden von mehreren tausend Mark entstanden war. Um die Mittagszeit wurde meine Mutter von einem Lastkraftwagen angefahren, dessen Lenker sich in trunkenem Zustand befand. Wegen einer schweren Kopfverletzung mußte sie unverzüglich ins Krankenhaus gebracht werden. Gegen Abend gab es eine beispiellose Blamage für meinen Vater, der als Vorstand eines namhaften Wandervereins in einer Aula vor vollbesetzten Zuschauerreihen einen aufschlußreichen Lichtbildervortrag über unsere schwarzwälderische Heimat hielt, oder vielmehr halten sollte. Unglücklicherweise war schon zwischen die ersten beiden farbenprächtigen Diapositive das obszöne Bildnis eines splitternackten, stadtbekannten Freudenmädchens geraten. Neben der unverfrorenen Dirne, die sich in einer aufreizend schamlosen Stellung präsentierte, erkannten die verdutzten Zuschauer unverwechselbar meinen leiblichen Vater, der, ebenfalls unbekleidet, sich an derselben in unglaublich perverser, hier nicht wiederzugebender Weise zu schaffen machte. Als die schändliche Pornographie auf der riesengroßen Leinwand aufleuchtete und das Lasterleben des Wollüstlings schonungslos enthüllte, herrschte im Saal zunächst betroffenes Stillschweigen. Doch nach wenigen Sekunden fingen einige ältere Frauen böse zu kichern an, Männer begannen lauthals zu wiehern, junge Damen wälzten sich gackernd auf ihren Stühlen, zuletzt krümmte sich alles vor Lachen und der ganze Saal dröhnte von donnerndem, niederschmetternden Gebrüll. Der heillose Tumult spottete jeder Beschreibung. Die Menschenmenge kochte förmlich vor unverhüllter, überwallender, ja, geradezu unverschämter Schadenfreude. Mein Vater sprang kreidebleich auf und raste wie von Sinnen, den hochwertigen Projektor umstoßend, aus dem lärmerfüllten Raum, stieg in sein Auto und fuhr von hinnen. Gegen neun Uhr rief er mich an und sagte, daß es wohl angebracht sei, einige Wochen außerhalb unseres Ortes zu Verbringen, um so den schmachvollen Verhöhnungen zu entgehen. Da er nun zum Gespött der Leute geworden sei und seinen guten Ruf unwiederbringlich verloren habe, wäre ein vernünftiges Leben in dieser Kleinstadt für ihn undenkbar.

Die unsagbar peinliche Situation meines Vaters war für mich hauptsächlich deshalb so ärgerlich, weil jetzt kein Fahrzeug zur Verfügung stand, hatte ich mir doch stur in den Kopf gesetzt, ausgerechnet an diesem Abend das baccantische und womöglich orgiastische Treiben im Waldhaus genauestens zu beobachten. Da ich meiner Verlobten das blamable Geschehnis und somit den sündhaften Lebenswandel ihres künftigen Schwiegervaters aus verständlichen Gründen zu verschweigen gedachte, schwindelte ich ihr kurzerhand vor, der Wagen sei wegen eines beträchtlichen Motorschadens in eine Reparaturwerkstätte gebracht worden. Monika war jedoch erfreulicherweise sofort einverstanden, mit mir die kilometerweite Strecke zu der anrüchigen Holzhütte zu laufen.

Meine Armbanduhr zeigte schon dreiviertel zehn, als wir unbekümmert den einsamen, staubigen Feldweg einschlugen. Längst war die Nacht hereingebrochen und schwarzgraue Dunkelheit breitete sich über dem Land aus. Der kalte Novemberwind strich unaufhörlich über die endlosen Stoppelfelder und pfiff uns um die Ohren. Kein einziges Gestirn flimmerte am Firmament, denn der Himmel war mit schweren, tiefhängenden Wolkenungetümen verhangen. Allein das Mondlicht gab ein paar kurze Gastspiele und schimmerte eine Zeitlang durch die vorüberziehenden Dunstschwaden. Wir schritten tapfer voran, schäkerten ausgelassen und erzählten uns ungemein spaßige Geschichten. Das schallende Gelächter meiner frohgelaunten Begleiterin weckte mehrstimmiges Echo und schreckte sicherlich im weiten Umkreis schlafende Hasen und Rehe auf. Doch je näher uns der nachtschwarze Hochwald rückte, desto stockender und gedämpfter wurde unsere Unterhaltung. All unsere Fröhlichkeit war mit einemmale entschwunden. Das herzhafte Lachen meiner Freundin verstummte, ihre ansteckende Redelust verlor sich; sie wurde zunehmend einsilbiger. Eine unangenehme Bangigkeit hatte sich unser bemächtigt. Wir wagten nur noch zu flüstern und als fernab aus einem abseits gelegenen Bauerngehöft langanhaltendes Hundegeheul ertönte, das schaurig von den bewaldeten Bergen widerhallte, gruselte es uns und wir verhielten uns ganz still.

Monika unterbrach das beklemmende Schweigen und fragte mich voller Ungeduld, ob es denn noch weit zu dem kleinen Haus sei. Doch auch ich konnte es nicht mit hundertprozentiger Bestimmtheit sagen, weil ich den Weg fast eine Ewigkeit nicht mehr gegangen war und ich zudem in der pechschwarzen Finsternis jegliche Orientierung verloren hatte.

Als wir unsere Schritte in die riesige, unüberschaubare Waldwildnis lenkten, ängstigten wir uns dermaßen, daß es nicht viel gefehlt hätte und wir wären schnurstracks umgekehrt. Das gleichförmige Rauschen windbewegter Baumwipfel kam uns irgendwie gefahrdrohend vor. Unheimlich schwarz erhoben sich die Tannen beiderseits des gewundenen, schier unendlich sich dahinziehenden Forstweges. Bis zu den Knöcheln versanken wir im feuchten, schwellenden Moos. Manchmal behinderten geknickte Äste und tiefherabhängende Zweige unser Vorwärtskommen und kratzten schmerzhaft in unsere Gesichter. Sogar im tiefsten Waldesinnern verspürten wir den starken, schneidigen Wind; die fast winterliche Kälte drang selbst durch unsere Kleidung; wir froren erbärmlich. Monika stolperte mit ihren unbequem hohen Schuhabsätzen über freigelegtes, schlangenförmiges Wurzelgewirr und stöhnte vor Schmerz. Auch ich strauchelte einmal und fiel der Länge nach hin. Jedoch ließen wir uns kurz vor dem Ziel durch derart unvorhergesehene Zwischenfälle und Unannehmlichkeiten nicht aufhalten.

Unvermittelt fragte mich meine Freundin, wie denn die anderen Gäste zur Partyhütte gelangen werden. Es sei ausgeschlossen, mit einem Kraftwagen hier durchzukommen, andererseits gäbe es keine annehmbare Zufahrtsstraße. Ich war über diese plötzliche Äußerung beinahe erschrocken. Da ich unablässig über die schaudererregende Schilderung des verängstigten Forstarbeiters nachgegrübelt hatte, war mir dieser Umstand tatsächlich noch nicht aufgefallen. Ich mußte meiner Verlobten ausnahmsweise widerspruchslos zustimmen. Zu dem abgeschiedenen Holzhaus führte ausschließlich dieser holperige Weg, der aber infolge ungenügender Breite, schlechten Bodens und zahlloser Hindernisse keinesfalls zu befahren war. Das letzte Mal, als ich in dieser verlassenen Gegend weilte, war es noch möglich gewesen, ihn mit einem Kraftfahrzeug zu benützen. Jetzt war er mit Gräsern, Farnpflanzen, Wegerichgewächsen, Brennesseln und kniehohem Dickicht überwuchert. Ich gelangte zu der Erkenntnis, daß ich mit dem Wagen meines Vaters nichts hätte ausrichten können und der ganze Ärger sinnlos gewesen war. Daß alle wegen dieser Party jeden Abend im undurchdringlichen Dunkel der Nacht diesen gefahrvollen Pfad liefen, grenzte jedoch ans Unglaubliche. Als endlich das hellerleuchtete Holzhaus zwischen den dicken Baumstämmen auftauchte und wir kein einziges Auto ringsumher erblickten, schöpfte ich erstmals einen gewissen Verdacht. Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll, und ich befürchte, daß ich mich kaum verständlich machen kann. Als in diesem Moment meine letzten Zweifel der unerschütterlichen Gewißheit gewichen waren, daß sämtliche Partyfreunde den beschwerlichen Waldweg gelaufen sein mußten und diesen strapaziösen Fußmarsch womöglich tagtäglich antraten, stieg ein abstruser Gedanke in mir auf, ein Gedanke, schauderhaft und dennoch zu unbestimmbar, um ihn weiter zu verfolgen oder gar in Worte fassen zu können.

Erst als uns der gleichmäßig hämmernde Beatrhythmus und das Kreischen und Jauchzen beschwipster Mädchen entgegenschallte, ließen sich meine unnennbaren und unbegründeten Befürchtungen verscheuchen. Schon hatten wir die schmale, knarrende Eingangstüre geöffnet und wurden von einem kessen Teenager, der uns beim Namen nannte, auf das herzlichste empfangen.

Wie groß aber war mein Erstaunen, als wir in ein prunkvolles Nebenzimmer geführt wurden, von dessen Existenz ich bislang nicht die geringste Ahnung hatte. Verblüfft schauten wir umher; die Wände ringsum waren mit grellrotem, glitzernden Stoff bespannt; samtartige, flammendgelbe Gardinen zierten die winzigen Fenster; weiche, hellblaue Teppiche dämpften unsere Schritte; an der Decke hingen hübsche, bunte Lampions, die ein intimes, zauberhaftes Licht verbreiteten; rundherum waren violettfarbene Liegen aufgestellt; auf dem runden Tisch brannten vielfarbige Tropfkerzen; ein lustiges Feuerchen knisterte im Kamin und strahlte eine wohlige Wärme aus. Der luxeriös und zugleich extravagant ausgestattete, in vielfältigen Farben leuchtende und schillernde Raum war von halbwüchsigen Jungen und Mädchen überfüllt. In der drangvollen Enge fanden wir uns zuerst kaum zurecht. Es waren lauter Unbekannte zugegen, die sich zum Teil derart lange Haare hatten wachsen lassen, daß man nicht mit Sicherheit sagen konnte, ob die betreffenden Personen dem weiblichen oder männlichen Geschlecht angehörten. Den exzentrischen Gastgeber konnte ich allerdings nirgends entdecken. Als ich mich nach dessen Verbleib befragte, antwortete man mir, daß "Vlad" (so oder ähnlich wurde er genannt) aller Wahrscheinlichkeit nach derzeit in seiner Stammkneipe säße und voraussichtlich erst zur Geisterstunde hier eintreffen werde. Als ich daraufhin erwiderte, daß ich mir sein Verhalten nicht erklären könne, hörte ich aus dem Hintergrund nur ein undeutliches Murmeln und einige abgerissene, unzusammenhängende Sätze. So verstand ich zum Beispiel die Worte "Der Meister geht auf Menschensuche" und "Durst und Hunger plagen uns", vermochte aber beim besten Willen keinen Reim auf dieses Gefasel zu machen. Außerdem war augenblicklich die Beatmusik derart hämmernd und tieftönend, daß man schwerlich sein eigenes Wort verstand und ich mich deshalb auch verhört haben konnte. In der Annahme, mein Freund würde ohnedies gleich ankommen, hielt ich weitere Fragen für überflüssig, zumal allesamt berauscht zu sein schienen und lieber inhaltlose Trinklieder sangen, als korrekte, zufriedenstellende Auskünfte zu erteilen. Zudem wurde ich abgelenkt, denn gerade wurden neue, alkoholische Getränke herangeschafft und die übermütige Clique erhob ein gellendes Freudengeschrei, welches mir durch Mark und Bein ging. Übrigens, Wein und Sekt flossen in Strömen; wenn ich mich noch recht entsinne, wurde sogar frappierter Champagner getrunken. Es herrschte eine angeregte Stimmung. Allerdings erweckte es manchmal den Anschein, daß die Heiterkeit der Anwesenden nur geheuchelt war, wie man dies heutzutage ja oft bei derartigen Gelegenheiten antrifft. Leider merken diese "vergnügten" Leute, die noch dazu als lebensbejahend bezeichnet werden, überhaupt nicht, wie lächerlich und abstoßend sie mit ihrem albernen, erkünstelten Lachen, ihrer kindischen Ausgelassenheit, dem lautstarken Gegröle und der ekelhaften "Alkoholfahne" auf ihre Umwelt wirken.

Monika und ich setzten uns auf ein kleines, modernes Sofa, unweit des Kamins. Hier fühlten wir uns überaus behaglich, denn wir konnten endlich unsere erstarrten Glieder aufwärmen. Einige Minuten nachdem wir Platz genommen hatten, wurde ich inne, daß mir etliche miniberockter Teenager ungeniert begehrliche Blicke und zuweilen eine Kußhand zuwarten und mich ohne Unterbrechung verführerisch anlächelten. Als ich diese Mädchen eingehendst von oben bis unten musterte, fiel mir auf, daß ihre Fingernägel überlang waren und außerordentlich spitz zuliefen. Durch die glänzende, knallrote Lackierung stach dies besonders ins Auge. Meine Verlobte dagegen, die lebhaftes Interesse für die bizarre Wohnungseinrichtung bekundete, hatte nichts davon bemerkt. Sie machte mich darauf aufmerksam, daß sämtliche im Raume befindlichen Gegenstände, einschließlich der Vorhänge, der Teppiche und der Sitzmöbel aus einem abwaschbaren, mir unbekannten und möglicherweise unverwüstlichen Plastikmaterial bestanden. Ich verfiel hierüber jedoch nicht in unnötige Grübelei. Letzten Endes war es mir völlig gleichgültig, welche Art von Möbeln, Teppichbelägen und Wandbespannungen mein Freund bevorzugte. Ich nahm mir jedoch vor, mich sofort nach seinem Eintreffen zu erkundigen, wieso er dieses Zimmer mit verschwenderischem Luxus versehe, die anderen Räume und insbesondere die Außenfront des Hauses dagegen habe sträflich verwahrlosen lassen. Doch zu dieser Fragestellung kam es nicht mehr. Schon spürte ich die Alkoholwirkung des perlenden Schaumweines; ich vergaß die schrecklichen Ereignisse des zu Ende gehenden Tages und den eigentlichen Zweck meines Besuches und stürzte mich leichtfertig in den Wirbel des Vergnügens.

Als aber aus dem halbdunklen Vorderzimmer eine altertümliche Regulatoruhr mit zwölf dumpfen, spukhaften Glockenschlägen die Mitternacht ankündigte und die vielzähligen Partykerzen so weit niedergebrannt waren, daß nur noch der Docht schwach glimmte, trat in dem Geschehen eine abrupte Wandlung ein. Während es über den bisherigen Verlauf des geselligen Zusammenseins im Großen und Ganzen nichts Nachteiliges zu berichten gab und ich mich überzeugt glaubte, daß von sittlichen Entgleisungen wirklich keine Rede sein konnte, geriet ich unversehens in arge Bestürzung, die später in schieres Entsetzen umschlug. Bis zur Stunde war jedermann von überschäumender Lustigkeit ergriffen, doch als fortan nur die Flammen des prasselnden Kaminfeuers rötliche Lichtschimmer warfen und eine gespenstische Wirkung ausübten, zogen allesamt unfreundliche, verdrossene Mienen. Anfangs hatten die verliebten Pärchen beschwingt und leidenschaftlich getanzt und sich einander Zärtlichkeiten zugeflüstert, jetzt hingegen tauschte niemand mehr nette Worte aus, ja, man konnte glattweg behaupten: Es wurde ausschließlich himmelschreiender Unsinn geplappert. Die ganze Gesellschaft schwatzte in einem fort von körperlosen Schreckgespenstern, lärmenden Poltergeistern, blutgierigen Fledermäusen, grauenhaften Mißgestalten, menschenfressenden Hexen, niederträchtigen Bösewichtern oder dergleichen. Man betitelte sich gegenseitig als Kopfjäger, Halsabschneider und Bauchaufschlitzer. Mit einer unbegreiflichen Lebhaftigkeit wurde über diese unerquicklichen Themen palavert. Ohne uns Beachtung zu schenken, hatte sich zwischenzeitlich mein Freund eingefunden. Er diskutierte soeben mit einer etwa dreizehnjährigen Göre, die dabei aufgeregt mit ihren Händchen gestikulierte über (es war kaum zu fassen) unterschiedliche Sargformen.

Das Gebaren der Jugendlichen wurde immer absonderlicher. Eine Gruppe leicht bekleideter Partymädchen war seit kurzem damit beschäftigt, unsinnige Verwünschungen zu zischeln und entsetzenerregende Drohungen hervorzustoßen, die sich gegen Gott und die Welt richteten. Von einigen bleichen Jünglingen wurden währenddessen unflätige Ausdrücke mit gewaltiger Donnerstimme durch den spärlich erhellten Raum gerufen. Es war für mich ein beängstigender Augenblick, als einer der Anwesenden ohne ersichtlichen Beweggrund die Zähne fletschte, knurrend auf mich zutrat und mir die schockierenden Aussprüche des als "Vampir von Düsseldorf" bekannten Verbrechers Peter Kürten ins Ohr raunte: "Das Bluten kann ich hören" und "Sie können sich nicht vorstellen, wie es ist, wenn das Blut so leise rauscht". Außerdem wurden mehrfach makabre Äußerungen der fluchwürdigen Massenmörder Fritz Harmann und John Haigh zitiert, auf die ich jedoch wegen ihrer Grausamkeit nicht eingehen möchte.

Auch hatte ich inzwischen mit Befremden wahrgenommen, daß keine Beat- oder Schlagerplatten mehr abgespielt wurden. Mein Freund, der jetzt sarkastisch grinsend am Plattenspieler stand und mit seinem Gesichtsausdruck zweifellos wie eine mißlungene Karikatur wirkte, schien nicht Herr seiner Sinne zu sein. Er hatte eine wahrlich außergewöhnliche Schallplatte aufgelegt, auf der anstelle rhythmischer Tanzmusik ein pausenloser, auf- und abschwellender Tiefton zu hören war, der dem Heulen eines Wolfes verteufelt ähnelte.

Monika starrte mich entgeistert an. Ich schüttelte fassungslos den Kopf. Über den unvermuteten Gesinnungswandel der anwesenden Halbstarken war ich entsetzt. Hatte der übermäßige Alkoholgenuß den Geist der gesamten Sippschaft verwirrt? War allenthalben der Wahnsinn ausgebrochen?

Monika und ich trugen uns mit dem Vorhaben, unbemerkt durch eine offenstehende Hintertüre zu verschwinden, um das einfältige Geschwätz dieser elenden Bagage nicht länger anhören zu müssen. Doch dann begegnete uns ein neuerliches, unfaßliches Schrecknis. Mein Freund, der bis jetzt stets wie versteinert am Plattenspieler gestanden und sich nur gerührt hatte, um eine weitere Platte mit gruseligem Wolfsgeheul aufzulegen, hatte offenbar unsere Absicht durchschaut. Mit einem schrillen, tierartigen Aufschrei kam er herbeigestürzt, um uns den Fluchtweg zu versperren. Sein Gesicht, das in den letzten Minuten fortwährend zu einer teuflischen Grimasse verzogen war, verzerrte sich vor unseren Augen zur unkenntlichen, haßerfüllten, schreckeinflößenden und abscheuerregenden Dämonenfratze. Mit seinen langen, dürren Zeigefinger zu meiner angstschlotternden Verlobten hindeutend, sprach er zum umherhockenden Gesindel mit überlautem, durchdringenden Stimmorgan: ,,Freunde der Nacht! Freunde des Blutes! Ich kann euch hiermit die erfreuliche Mitteilung machen, daß sich ein neues Mädchen in unserem Kreise befindet, an dem wir ungestört unserer Begierde frönen können!"

Kaum hatte der gottvergessene Schurke diese fürchterlichen Worte herausgeschrieen, war die verbrecherische Bande wie auf Kommando mit ohrenschmerzendem Gejohle von den Sesseln aufgesprungen und hatte im Handumdrehen meiner Freundin Rock, Bluse und Unterwäsche vom Leib gerissen. Die Kleidungsstücke wurden in kleinste Stücke zerfetzt. Schon vermeinte ich, die entmenschten Rohlinge würden, von unbezähmbarer Fleischeslust getrieben, über den jählings entkleideten Körper herfallen und die Wehrlose brutal vergewaltigen. Doch sie verharrten urplötzlich regungslos; indessen löste sich eine mittelgroße, schwarzverschleierte Frauengestalt von den Umstehenden heraus und trat langsam vor mein Mädchen hin, das in bitterliches, herzzerreißendes Schluchzen ausgebrochen war. Mit ihren ungeschnittenen, extrem spitzen Fingernägeln hatte die Unbekannte den schönen Hals meiner Freundin dermaßen mörderisch aufgeschnitten, daß eine Unmenge Blut aus der klaffenden Wunde strömte und über die weißen, bloßen Brüste hinabfloß. Ich traute meinen Augen nicht, denn die Missetäterin entpuppte sich als ein verhältnismäßig junges, bildhübsches Mädchen, dessen Gesicht aber sadistische, gewalttätige Züge aufwies. Die teufelhafte Fremde umarmte jedoch, entgegen ihrem bisherigen gefühllosen Vorgehen, ihr blutendes Opfer sehr zärtlich, tröstete und küßte es liebevoll, um es gleich hernach behutsam und mit überraschender Sanftheit auf den danebenstehenden Diwan niederzudrücken. Dann warf sie ohne Scham ihren schwarzen, hauchdünnen Schleier ab, worauf auch sie völlig hüllenlos in unserer Mitte stand. Sinnlich lächelnd forderte sie uns auf, ihren liebreizenden, formvollendeten Körper anzubeten. Die geheimnisvolle Schöne wurde von allen Seiten begeistert angesehen, genußvoll bestaunt und grenzenlos vergöttert. Mit ihrer reinen, samtweichen Haut, den verlockend rosigen Paradiesäpfeln und den strammen, lilienweißen Schenkeln stellte sie fürwahr eine sinnverwirrende Augenweide dar, die ihresgleichen sucht. Während das übrige weibliche Gesocks vor neidischer Bewunderung erstarrte, gefiel sich die reizvolle Verführerin in ihrer Nacktheit. Sie amüsierte sich königlich. Tänzerische, geschmeidige Körperbewegungen machend, nahm sie immerfort unzüchtige Handlungen an sich vor, die ich jedoch wegen ihrer Abartigkeit nicht näher zu beschreiben beabsichtige. Nachdem die Nackttänzerin ihre sexuellerregende Schau beendet hatte, legte sie sich wollüstig stöhnend auf ihre erzwungene Gespielin, giererfüllt den wohlgeformten Leib der Darniederliegenden betastend. Die weit heraus gestreckte Zunge des liebestollen Teufelsweibes näherte sich lechzend der Brust meiner Verlobten, um gleich darauf, am Busen beginnend, bis zum verletzten Hals hinauf den unaufhörlich rinnenden Lebenssaft zu lecken und tierisch schlabbernd hinunterzuschlucken.

Eisiger Schreck hatte mich auf meinem Platz unbarmherzig festgebannt; ich war ratlos und außerstande, meine Glieder zu rühren. Ich wähnte mich in einem entsetzlichen Alptraume befangen, als ich wahrnahm, daß Monika nicht die geringsten Anstalten machte, sich dieser ungeheuerlichen Mißhandlung zu widersetzen; im Gegenteil die Quälerei anscheinend sehr gerne mochte, denn ihre nackten Arme und Beine umschlangen mit offenkundiger, noch nie gekannter Lüsternheit den schlanken Körper der blutsaugenden Teufelin. Monika schien vom Satan besessen zu sein. Ihre zarten, gepflegten Hände streichelten unentwegt und unermüdlich die auf ihr lastende Bestie. Krampfhaft hielt sie das Scheusal umklammert, als wolle sie von ihm Besitz ergreifen. Nun beobachtete ich, daß das langhaarige Geschöpf sich den eigenen Hals ein wenig aufritzte und mit verheißungsvollen Blicken und betörendem Lächeln meiner Geliebten ihr Teufelsblut zum Trinken anbot. Monika war vollauf beseligt; sie folgte der Aufforderung mit einem Jauchzer höchsten Entzückens. Das Sofa auf dem die Liebeswütigen ihren tierischen Trieben freien Lauf ließen, und sich, von der einen Seite auf die andere werfend, den Lüsten des Fleisches rückhaltlos hingaben, ächzte bedenklich. Wenn die ungeheure Blutmenge nicht zu sehen gewesen wäre, die von den zuckenden Frauenkörpern über die Liege hinab auf den Boden troff und dort eine scheußliche, größer werdende Lache bildete, hätte man die zwei Mädchen für laszive Lesbierinnen halten können. Einmal unterbrachen sie das gegenseitige Blutsaugen und tauschten mit unwahrscheinlich stürmischer Leidenschaft heiße, glühende Küsse, zungenberührend, die bluttriefenden Mäuler aufeinanderpressend, die Zähne aneinanderknirschend. Doch dann begann die dämonische Fremde von neuem mit unbändiger Wildheit Monikas Blut zu saugen, während diese, als ob sie an einer krankhaften Sucht leiden würde, den Hals der unterweltlichen Schönheit genüßlich wie eine durstige Katze abschleckte. Die Nackten fielen sich wie hungrige Tiere einander an. Dabei wurde die Halswunde meiner Braut zusehends tiefer und nahm zu meinem Entsetzen ein immer schlimmeres, gräßlicheres Aussehen an. Das übrige Teufelspack ergötzte sich an diesem blutvollen Anblick. Stumpfsinnig staunend reihten sie sich alle um die beiden und geiferten regelrecht vor Wollust. "Sieh doch! Die Kleine blutet wie ein Schwein", krächzte jemand neben mir aus heiserer Kehle. Das ruchlose Weibsstück war unterdessen vor Verzückung außer sich; sie befand sich in einem Zustand wahnsinnigster Erregung, im letzten Stadium der Erotomanie. Indem sie das Geschlechtsteil ihrer sinnentrückten, verblutenden Partnerin geil befingerte, saugte sie immer wilder und ungestümer; zuletzt tobte sie wie ein rasendes Raubtier, wohingegen Monika offensichtlich mit dem Tode rang. Mit einem scharfen, wolfsartigen Biß bereitete die erbarmungslose Blutsäuferin dem schaudervollen Liebesspiel ein jähes, grausames Ende, am Hals der Unglücklichen ein gähnendes Loch hinterlassend.

Kaum hatten die Unmenschen dies wahrgenommen, stürzten sie sich wie Hyänen auf die Tote, rissen sie mit viehischer Roheit in tausend Stücke, fraßen gierig die Fleischbrocken und erlabten sich in anwidernder Weise an den letzten Blutstropfen. Hilflos mußte ich zusehen, wie die zerfetzten Körperteile meiner heißgeliebten Monika von den Kannibalen mit ekelerregendem Schmatzen binnen weniger Sekunden vertilgt wurden. Nur einige Haarlocken und ein paar abgenagte Knochen, die meterweit verstreut umherlagen, erinnerten an das grausige Mahl.

Da schritt Vlad mit blutverschmierter Visage auf mich zu, lachte höhnisch und schnarrte: "Jetzt weißt du, Wie wir unsere Nächte verbringen. Nun kennst du unseren beglückenden Zeitvertreib! Ihr bedauernswerten Menschen mit eurem Brautwerben und Liebesgeflüster, euren Verlobungsfeiern und Hochzeitsfesten, eurem gramvollen, unerträglichen Eheleben! Ihr mit euren törichten Sitten und Gebräuche! Hahahaha! Blut! Das ist unsere Welt! Das gereicht uns zur höchsten Lust! Nur hin und wieder bekommen wir mächtigen Appetit auf zartes, frisches Fleisch! Heute war es uns wieder einmal vergönnt, auch unseren Hunger zu stillen. Davon abgesehen, hätten wir deine Angebetete ohnehin zerreißen müssen, denn in unserem Kreise befinden sich schon zu viele Mädchen. Hätten wir nur unseren Durst gelöscht, so wäre sie unvermeidlich eine von uns geworden. Aber dich, lieber Freund", seine Stimme klang jetzt überaus feierlich, "fordern wir hiermit auf, in unser Reich einzutreten!"

Als ich die volle Bedeutung seiner grauenerregenden Worte erfaßte und mir die furchtbare Wahrheit mit qualvoller Deutlichkeit ins Bewußtsein rückte, erschauderte ich leichenblaß. Schon oft hatte mich das spurlose Verschwinden zahlreicher junger Menschen in unserer Gegend zutiefst beunruhigt. Nun stand es also fest: Das Teufelsgezücht hatte sie mit seinen gefährlichen Bissen zu blutdürstigen Vampiren gemacht oder bestialisch aufgefressen.

Allein, mir blieb keine Zeit, solchen Überlegungen nachzuhängen. Ein lähmender Schrecken durchzuckte mich, als ich sah, daß die lüsternen Augen einiger totenbleicher Vampirmädchen unverwandt auf mich gerichtet waren. Knieschlotternd stand ich einem Dutzend scharfer, bleckender, bißlustiger Eckzähne gegenüber. Auf einmal rieselte ein eigenartiger, fast angenehmer Schauer über meine Haut. Ich erkannte, daß die Vampirinnen von zügelloser Geilheit befallen waren und unverhohlen nach mir gierten. Da verspürte ich den unwiderstehlichen Drang, mich den liebeshungerigen Geschöpfen zu Füßen zu werfen. Mich erfüllte das brennende Begehren nach ihren erdbeerfarbenen, kußbereiten Lippen. Ich stellte mir vor, daß es ein berauschendes Gefühl, eine unbeschreibliche Beglückung sein müsse, von einer Vampirette, die man anbetet, der man verfällt, ausgesogen und dabei so inniglich geliebt zu werden, daß ihr leichenkalter Leib vor feuriger Liebe erglüht ...

Die sonderbaren Empfindungen, die mich bestürmten, währten nicht lange. Höchstwahrscheinlich hatten mich die Untoten hypnotisiert, denn erst nach einer geraumen Weile wurde ich mir meiner lebensbedrohlichen Lage richtig bewußt. Die unsägliche Furcht, die meine Glieder bisher erstarren ließ und bewegungsunfähig machte, verlieh mir nunmehr Flügel. Durch einen glücklichen Zufall gelang es mir, unversehrt den haschenden Krallen und den unheilbringenden Vampirbissen zu entkommen. Hastig verriegelte ich eine Türe hinter mir und flüchtete über eine steilabwärtsführende Stiege in ein geräumiges Kellergewölbe, in dem ungezählte, schwarze Kerzen an den Wänden flackerten. Ich befand mich an der düsteren Ruhestätte der Vampire! Da stand Sarg an Sarg gereiht, eine enggeschlossene Reihe offener, mattschimmender Särge! Unvorstellbares Grausen packte mich, als ich an einem Totenschrein ein metallenes Schild gewahrte, worauf mein eigener Name prangte. Während ich noch wie betäubt dastand, versuchten die zähnefletschenden Monstren gewaltsam in den Kellerraum einzudringen. Doch es glückte mir, mich abermals aus meiner Erstarrung zu befreien und dem Verderben zu entrinnen. Durch eine enge Luke schlüpfte ich ins Freie. Wie von tausend Teufeln gehetzt, jagte ich den unwegsamen Waldpfad heimwärts.

Zu meiner freudigen Überraschung bemerkte ich, daß die Horde greulicher Unholde mir nicht gefolgt war. Die Teufel heulten weitab ohne Unterlaß wie wildgewordene Hunde in den aufdämmernden Herbstmorgen hinein. Erschöpft ließ ich mich am Wegesrand nieder und ließ mir die grauenvollen Erlebnisse nochmals durch den Kopf gehen. Gedankenversunken fuhr ich mit meiner Hand über den Hals und erschrak heftig. Auch ich war gebissen worden!

Todmatt erreichte ich in den heutigen Vormittagsstunden meine Wohnung. Ich schloß mich sogleich in mein Zimmer ein, reinigte und verband die schmerzende Bißwunde sorgfältig. Als ich beim Erneuern der durchgebluteten Mullbinde meine blutigen Finger mit dem Mund in Berührung brachte und einige Tropfen kostete, zuckte ich zusammen, denn ich wurde gewahr, daß der Lebenssaft so vorzüglich, so delikat schmeckt. Gibt es denn etwas Besseres, Köstlicheres, Schmackhafteres als das warme, reine, edle, purpurrote Blut? Führt Bluttrinken nicht zur höchsten, unaussprechlichen Glückseligkeit? Bedeutet es nicht die Herrlichste aller Wonnen?!

Wie leer und trostlos doch das Leben ist! Mein Vater ist geflohen, meine Mutter liegt schwerverletzt im Krankenhaus, meine Verlobte ist das Opfer der Vampire geworden. Nur meine Großmutter ist das einzige Lebewesen im Hause. Geistesabwesend hockt sie in ihrem ausgebrannten Zimmer und stiert mit glasigen Augen auf die jammervollen Überbleibsel ihres Mobilars. Ich vermag mich des Eindrucks nicht zu erwehren, daß die Nacht des Wahnsinns sie umfangen habe.

Ich gedenke, nicht länger an dieser Stätte des Grauens zu verweilen. Mich ekelt vor den Menschen, vor dem gesamten Menschengeschlecht. Wie überglücklich müssen die Vampire sein! Ihr Dasein ist sorglos und lustvoll! Ich werde zu ihnen zurückkehren. Mich dürstet nach Blut.

 

© Manfred Wirth

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